Das alte Königreich 02 - Lirael
tätig zu werden. Oder zumindest Geld in Ancelstierre auszugeben.«
»Ich glaube, es geht mir gut genug, dass ich reiten kann«, murmelte Sam. »Ich meine, ich weiß nicht, ob ich wirklich verletzt bin. Mein Handgelenk ist verletzt…«
Er hielt inne und blickte auf den Verband. Charterzeichen bewegten sich um dessen Rand und drangen wie goldener Schweiß aus den Poren. Sam erkannte, dass sie ihn heilten, denn sein Handgelenk war jetzt nur noch wund, während der Schmerz zuvor schier unerträglich gewesen war. Und der Schmerz der kleineren Verbrennungen an seinen Oberschenkeln und Fußgelenken war völlig verschwunden.
»Den Verband brauchst du nicht mehr.« Touchstone machte sich daran, ihn Sam abzunehmen. Während er den Mull aufrollte, beugte er sich noch weiter zu seinem Sohn hinunter und flüsterte: »Körperlich bist du nicht schlimm verwundet, Sam. Aber ich fühle, dass du eine Verletzung des Geistes erlitten hast, und es wird einige Zeit dauern, bis du wiederhergestellt bist. Eine solche Verletzung zu heilen, übersteigt leider meine Macht.«
»Wie meinst du das?«, fragte Sam besorgt. Er fühlte sich plötzlich klein und unscheinbar, gar nicht wie der beinahe erwachsene Prinz, der er sein sollte. »Kann Mutter nichts dagegen tun?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Touchstone und legte die Hand auf Sams Schulter. Die kleinen weißen Narben von jahrelangen Fechtturnieren und Zweikämpfen auf dem Schlachtfeld waren im hellen Krankenhauslicht deutlich auf seinen Fingerknöcheln zu sehen. »Ich kann ja nicht einmal erkennen, welcher Art diese Verletzung ist. Es scheint, als hätte ein Parasit einen winzigen Teil deines Geistes aufgesogen, als du unvorbereitet und ungeschützt in den Tod gegangen bist. Es ist nicht viel, aber genug, dass du dich schwächer und langsamer fühlst als vorher. Aber das gibt sich mit der Zeit wieder.«
»Ich hätte es nicht tun sollen, nicht wahr?«, flüsterte Sam. Er blickte ins Gesicht seines Vaters und suchte nach einem Zeichen der Missbilligung. »Ist Mutter wütend auf mich?«
»Überhaupt nicht«, antwortete Touchstone verwundert. »Du hast getan, was du für notwendig hieltest, um die anderen zu retten. Das war sehr tapfer und in der besten Tradition meiner Familie und der deiner Mutter. Sie macht sich schreckliche Sorgen um dich.«
»Wo ist sie denn?«, entfuhr es Sam. Er hörte sich an wie ein kleiner, verzogener Junge und wünschte, er hätte die Frage gar nicht erst gestellt.
»Offenbar ist der Fährmann von Olmond von einem Mordaut besessen«, sprach Touchstone geduldig, und Sam erinnerte sich an die frühen Jahre seiner Kindheit, als sein Vater ihm stets hatte erklären müssen, weshalb Sabriel wieder einmal in geheimnisvoller Mission unterwegs war. »Wir erfuhren davon, als wir die Mauer erreichten. Sie flog mit dem Papiersegler los, um etwas dagegen zu unternehmen. In Belisaere sehen wir uns wieder.«
»Wenn sie nicht inzwischen woandershin muss.« Sam wusste, dass er sich verbittert und kindisch anhörte, aber erst wenige Stunden zuvor war er dem Tod näher gewesen als dem Leben, und nicht einmal das hatte seine Mutter veranlasst, nach ihm zu sehen.
»Wenn sie nicht inzwischen woandershin muss, stimmt«, pflichtete Touchstone seinem Sohn bei, ruhig wie immer. Sam wusste, dass sein Vater sich stets bemühte, Ruhe zu bewahren, weil Berserkerblut in ihm floss und er Angst hatte, es könnte seinen Willen bezwingen. Ein einziges Mal war Sam Zeuge dieser plötzlich ausbrechenden Wut gewesen, als ein falscher Botschafter eines der nördlichen Clans bei einem Bankett im Palast versucht hatte, Sabriel mit einer Vorlegegabel zu erstechen. Touchstone hatte wie ein Furcht erregendes Ungeheuer gebrüllt, den mehr als sechs Fuß großen Barbaren gepackt und ihn auf die gedeckte Tafel geschleudert wie eine Strohpuppe. Das hatte alle mehr erschreckt als der Attentatsversuch, vor allem, als Touchstone anschließend versuchte, den Doppelthron hochzustemmen und ihn auf den Mann zu schleudern. Zum Glück war es ihm nicht gelungen, und Sabriel hatte ihn beruhigt, indem sie ihm über die Stirn strich, während er wütend am Marmorpodest des Thrones zerrte.
Daran erinnerte Sam sich nun, als er sah, wie sein Vater die Augen zusammenkniff, so dass sich auf seiner Stirn eine tiefe, steile Falte bildete.
»Tut mir Leid«, murmelte Sam. »Ich weiß, dass sie es tun muss. Schließlich ist sie die Abhorsen.«
»Ja«, sagte Touchstone, und Sam spürte, was sein Vater jedes Mal empfand,
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