Das alte Königreich 02 - Lirael
sie redeten ein paar Worte, die Sam gleich darauf aber schon wieder vergaß. Er blickte grübelnd aus dem Fenster. Die Sonne stieg höher und die Luft wurde wieder kälter.
Schließlich zwang Sam sich, das Päckchen mit zitternden Händen aufzuheben. Er durchschnitt die Schnur mit einem Messer, das in seiner Scheide am Kopfende des Bettes gelegen hatte, und wickelte das Öltuch ab.
Natürlich war es das
Buch der Toten.
Das grüne Leder schimmerte, als wäre es mit Schweiß bedeckt. Der Silberverschluss war mit Reif überzogen, wurde jedoch klar und glänzend, während Sam darauf schaute; dann verfärbte er sich wieder, obwohl Sam nicht darauf gehaucht hatte.
Eine Nachricht für ihn war auch dabei: ein kleines Blatt Papier mit nur einem Charterzeichen und Sams Namen in Sabriels unverkennbarer Handschrift.
Sam griff danach; dann benutzte er das Öltuch wie einen Handschuh, um das Buch unter sein Bett zu schieben. Er konnte es nicht ansehen. Noch nicht.
Vorsichtig berührte er das Charterzeichen auf dem Papier, und Sabriels Stimme erklang in seinem Kopf. Sie redete schnell. Aus den Geräuschen im Hintergrund schloss Sam, dass sie die Nachricht unmittelbar vor ihrem Aufbruch aufgezeichnet hatte, ehe sie mit dem Papiersegler abgeflogen war, um gegen die Toten vorzugehen.
Lieber Sam,
ich hoffe, es geht dir gut und du kannst mir verzeihen, dass ich jetzt nicht für dich da bin. Ich habe von deines Vaters letztem Kurierfalken erfahren, dass du so weit genesen bist, um nach Hause reiten zu können, aber dass deine Begegnung im Tod dich sehr viel Kraft gekostet hat. Ich weiß, wie das sein kann, und bin stolz, dass du es gewagt hast, dich in den Tod zu begeben, um deine Freunde zu retten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich das ohne meine Glocken getraut hätte. Hab keine Angst, falls dein Geist verletzt wurde – das heilt mit der Zeit. Es ist das Wesen des Todes, zu nehmen, doch das Wesen des Lebens ist das Geben. Deine tapfere Tat hat mir gezeigt, dass du bereit bist, mit deiner Ausbildung als Abhorsen zu beginnen. Das macht mich stolz und ein wenig traurig zugleich, weil es bedeutet, dass du jetzt erwachsen bist. Ein Abhorsen hat viele Pflichten, und es ist sehr bitter für mich, dadurch sehr viel vom Leben meiner Kinder zu versäumen – von deinem Leben, Sam.
Ich habe es hinausgezögert, dich zu unterrichten, weil ich wollte, dass du der liebe kleine junge bleibst, den ich so gut in Erinnerung habe. Aber natürlich bist du schon seit vielen Jahren kein kleiner Junge mehr, und jetzt bist du ein junger Mann und musst auch als solcher behandelt werden. Dazu gehört auch, dass deine erbliche Anlage gefördert wird sowie die Rolle, die du in der Zukunft unseres Königreichs übernehmen musst.
Ein großer Teil deiner vererbten Pflichten ist im Buch der Toten
aufgelistet. Du hast es bereits ein bisschen mit mir studiert, doch nun ist es an der Zeit, dass du seinen Inhalt
beherrschen lernst, soweit das überhaupt für jemanden möglich ist. Besonders in diesen Tagen brauche ich deine Unterstützung, denn es gab eine seltsame Welle von Unruhen, sowohl durch die Toten als auch durch jene, die Freier Magie folgen, und in beiden Fällen kann ich die Quelle nicht ausfindig machen.
Nach meiner Rückkehr werden wir eingehender darüber sprechen, doch erst einmal möchte ich vor allem, dass du weißt, wie stolz ich auf dich bin, Sameth. Und dein Vater nicht minder.
Willkommen zu Hause, mein Sohn.
Alles Liebe
Mutter
21
HINTER DEN TÜREN AUS HOLZ UND STEIN
Lirael machte zwei Schritte auf die Tür aus rotem Holz zu, blieb jedoch abrupt stehen, als Chartermagie aufflammte und ein blendendes gelbes Licht aus dem Türrahmen drang – so hell, dass sie den Kopf senken und blinzeln musste.
Als sie aufblickte, stand ein Chartersendling vor der Tür – eine Kreatur aus Zauberfleisch und magischem Gerippe –, der für einen bestimmten Zweck herbeibeschworen wurde. Er war keiner der passiven Bibliothekshelfer, sondern ein Wächter von menschlicher Gestalt, jedoch viel größer und breiter als jeder lebende Mann. Er trug eine Silberrüstung und einen geschlossenen Metallhelm, der verbarg, welches Gesicht der Zauber ihm verliehen hatte. Er streckte sein Schwert aus und stand starr wie eine Statue; die Spitze der Waffe war nur ein paar Zoll vor Liraels ungeschützter Kehle. Im Gegensatz zur Konsistenz der Sendlinge waren ihre Waffen oder Werkzeuge stets echt.
Der Sendling hielt das Schwert ein paar Sekunden unbewegt.
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