Das alte Königreich 02 - Lirael
es nur ein Mittel.«
»Und welches?«, fragte Lirael dumpf.
»Das hier!« Die Hündin biss sie ins Bein.
»Au!«, schrie Lirael, sprang auf und prallte gegen die Tür. »Warum hast du das getan?«
»Du warst töricht«, antwortete die Hündin, während Lirael sich die Wade rieb, wo in dem weichen Wollstoff die Abdrücke der Hundezähne zu sehen waren. »Jetzt bist du wütend. Das ist schon besser.«
Lirael beäugte die Hündin finster, antwortete aber nicht, weil ihr nichts einfiel, das nicht – zu Recht – als beleidigt oder schlecht gelaunt ausgelegt werden konnte. Außerdem erinnerte sie sich an einen bestimmten Hundebiss an ihrem siebzehnten Geburtstag und wollte nicht unbedingt eine Narbe vom Biss an ihrem neunzehnten zurückbehalten.
Die Hündin starrte Lirael mit aufgestellten Ohren und schief gelegtem Kopf an und wartete auf eine Antwort. Lirael wusste aus Erfahrung, dass die Hündin, wenn nötig, stundenlang so dasitzen konnte. So gab sie auf und ihr Selbstmitleid zerbröckelte. Es war offensichtlich, dass die Hündin nicht verstand, wie wichtig es war, die Sicht zu haben.
»Wie kann ich diese Tür öffnen?«, fragte sie schließlich.
Ohne dass es Lirael bewusst gewesen wäre, hatte sie sich nach ihrem durch den Biss veranlassten Sprung an die Tür gelehnt. Sie konnte die Chartermagie im Holz warm und rhythmisch unter der Handfläche spüren.
»Schieb einfach«, riet die Hündin, kam näher und schnüffelte am Spalt zwischen Tür und Boden. »Der Sendling hat sie wahrscheinlich für dich aufgesperrt.«
Lirael zuckte die Schultern und drückte leicht mit beiden Händen gegen die Tür. Seltsamerweise schienen die metallenen Zeichen sich bewegt zu haben, als sie nicht darauf geachtet hatte. Die Zeichen waren vermischt gewesen, nun aber waren sie zu drei deutlichen Mustern geordnet, obwohl sich scheinbar kein Sinn daraus ergab. Lirael konnte nicht erkennen, welche Symbole sich unter ihren Händen befanden, doch sie spürte, dass sie einen Eindruck auf ihrer Haut hinterließen, und fühlte, dass sogar die metallenen Zeichen mit Chartersymbolen behaftet waren. Sie wusste nicht genau, was sie waren, doch es gab keinen Zweifel, dass die Tür ein Meisterwerk der Magie darstellte, das Ergebnis vieler Monde überragender Zaubersprüche und ebenso meisterhafter Schmiede- und Tischlerarbeit.
Lirael schob, doch die Tür gab bloß einen ächzenden Laut von sich. Sie schob stärker, und plötzlich glitt die Tür zurück wie eine Ziehharmonika, in sieben deutlich zu unterscheidende Paneele geteilt. Als das geschah, bemerkte Lirael nicht, dass eines der drei Symbole völlig verschwand und nur noch zwei Arten von Zeichen zu sehen waren. Lirael war überwältigt von dem plötzlichen Schwall an Chartermagie, der aus der Tür floss und in sie hineinströmte. Sie spürte, wie die Chartermagie sie erfüllte und ihr ein Glücksgefühl schenkte, das sie nicht mehr empfunden hatte, seit die Fragwürdige Hündin in ihr Leben getreten war und ihre Einsamkeit vertrieben hatte. Die unbeschreibliche Euphorie schwamm in ihrem Blut, sprühte in ihrem Atem – bis sie abrupt verschwand und Lirael gegen den Türrahmen taumelte. Gleichzeitig lösten sich die Eindrücke der Zeichen auf Liraels Handtellern auf, bevor sie erkennen konnte, was sie bedeuteten.
»Puh!«, sagte sie kopfschüttelnd, während sie mit einer Hand unbewusst nach der Hündin an ihrer Seite griff. »Was war das?«
»Die Tür hat dich begrüßt«, antwortete die Hündin, entzog sich Liraels Hand und rannte voraus. Ihre Krallen klickten, als sie den ersten Treppenabsatz nahm, der tiefer in den Berg führte.
»Was meinst du damit?«, rief Lirael hinter ihr her, als der wedelnde Schwanz der Hündin um eine Biegung der Wendeltreppe verschwand. »Wie kann eine Tür jemanden begrüßen? Warte! Warte auf mich!«
Die Fragwürdige Hündin hielt üblicherweise nichts von Befehlen, von Bitten, ja, nicht einmal von Flehen, aber jetzt wartete sie ungefähr zwanzig Stufen tiefer. Es gab hier weniger Charterzeichen für Licht, und die Stufen waren mit dunklem Moos bewachsen. Zweifellos war seit sehr langer Zeit niemand mehr hierhergekommen.
Die Hündin blickte auf, als Lirael sie erreichte. Dann rannte sie sofort wieder zwanzig Stufen voraus, so dass Lirael sie zwar nicht mehr sehen, aber immer noch das Klicken der Hundekrallen hören konnte.
Lirael seufzte und folgte langsamer, denn sie traute den moosüberwucherten Stufen nicht. Weiter unten war irgendetwas, das ihr
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