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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
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Dann zuckte die Spitze so rasch, dass man es nicht sehen konnte, und schlitzte die Haut an Liraels Kehle gerade weit genug auf, um sich einen Tropfen Blut zu holen.
    Lirael unterdrückte einen Schrei und blieb reglos stehen, aus Angst, der Sendling würde Schlimmeres tun, wenn sie auch nur zusammenzuckte. Sie wusste viel über Sendlinge, da sie ihre dahin gehenden Studien sogar nach »Erschaffung« der Hündin fortgesetzt hatte, doch den wahren Zweck dieses Sendlings hier konnte sie nicht erkennen. Zum ersten Mal seit damals, als Lirael sich aufgemacht hatte, den Stilken zu stellen, fürchtete sie sich; die Angst, dass mit der Chartermagie etwas schief gegangen sein könnte, durchlief sie wie ein eisiger Hauch.
    Wieder hob der Sendling sein Schwert. Diesmal fuhr Lirael zusammen, denn sie konnte die Angst nicht mehr unterdrücken. Doch der Wächtersendling stieß nicht zu, sondern ließ den Tropfen Blut lediglich wie Öl die Klinge entlangrinnen, ohne dass der chartergeschmiedete Stahl davon verfärbt wurde. Nach einer Ewigkeit, schien es Lirael, erreichte der Blutstropfen den Griff und sank in die Parierstange wie eine Messerklinge in Butter.
    Hinter Lirael stieß die Hündin einen langen Seufzer aus, während der Sendling mit dem Schwert salutierte und zerfiel. Die Charterzeichen, die ihn für kurze Zeit real hatten werden lassen, wirbelten in die Luft, ehe sie im Nichts verschwanden. Binnen weniger Sekunden gab es keine Spur mehr von dem Wächtersendling.
    Lirael, der bewusst wurde, dass sie den Atem angehalten hatte, holte nun erleichtert Luft. Sie berührte ihren Hals und erwartete, die unangenehme, klebrige Feuchtigkeit von Blut zu fühlen. Doch da war nichts – keine Wunde, kein Schnitt, nicht einmal ein Makel in der Haut.
    Die Hundeschnauze stupste Lirael von hinten in die Kniekehle. Dann flitzte die Hündin an ihr vorbei und schien sie anzugrinsen.
    »Du hast den Test bestanden«, sagte sie. »Du darfst die Tür jetzt öffnen.«
    »Ich bin mir nicht sicher, dass ich das noch möchte«, entgegnete Lirael nachdenklich, während sie weiterhin ihren Hals betastete. »Vielleicht sollten wir lieber umkehren.«
    »Was?«, rief die Hündin und stellte ungläubig die Ohren auf. »Du willst dich nicht umsehen? Seit wann bist du ein solcher Angsthase?«
    »Er hätte mir die Kehle aufschlitzen können.« Liraels Stimme zitterte. »Und beinahe hätte er’s getan.«
    Die Fragwürdige Hündin verdrehte die Augen und ließ den Kopf gereizt auf die Vorderpfoten fallen. »Er hat dich nur auf die Probe gestellt, um sicherzugehen, dass du das richtige Blut hast. Du bist eine Tochter der Clayr – keine durch die Charter entstandene Kreatur würde dir ein Leid zufügen. Du solltest dich daran gewöhnen, nicht einfach aufzugeben, nur weil dir etwas Angst macht!«
    »Bin ich denn eine Tochter der Clayr?«, flüsterte Lirael, und Tränen kullerten ihr über die Wangen. Sie hatte das ganze Jahr über ihren Kummer verborgen, doch an ihrem Geburtstag fehlte ihr die Kraft dazu. Sie kauerte sich neben die Hündin und umarmte sie, ohne auf den feuchten Hundegeruch zu achten. »Ich bin neunzehn und habe die Sicht immer noch nicht. Ich sehe nicht so aus wie die anderen. Als der Sendling das Schwert ausstreckte, wurde mir plötzlich eines klar: Er wusste, dass ich keine Clayr bin, und er würde mich töten.«
    »Aber er hat es nicht getan, weil du eine Clayr bist, Dummchen«, erinnerte die Hündin sie sanft. »Du hast doch gesehen, dass bei den Jagdhunden hin und wieder einer mit Hängeohren geboren wird; oder einer, der einen braunen Rücken hat statt einen goldenen. Trotzdem gehören sie zum Rudel. Du bist… nun ja, ein Hängeohr.«
    »Aber ich kann die Zukunft nicht Sehen!«, rief Lirael verzweifelt. »Würde das Rudel einen Hund dulden, der nicht wittern kann?«
    »Du
kannst
wittern«, entgegnete die Hündin ein wenig unlogisch und leckte Liraels Wange. »Außerdem hast du andere Gaben. Keine der Cousinen ist eine auch nur halb so gute Chartermagierin wie du, nicht wahr?«
    »Stimmt«, sagte Lirael, noch immer niedergeschlagen. »Aber Chartermagie zählt nicht. Das Sehen macht uns zur Clayr. Ohne die Sicht bin ich nichts.«
    »Vielleicht gibt es noch andere Dinge, die du lernen kannst«, munterte die Hündin sie auf.
    »Was denn? Sticken vielleicht?« Liraels Gesicht war tränenüberströmt. »Oder soll ich Lederarbeiten machen?«
    Aus der Stimme der Hündin schwand jedes Mitgefühl. »Das ist erbärmliches Selbstmitleid! Dagegen gibt

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