Das alte Königreich 03 - Abhorsen
überrascht auf. Er hatte sein Nähzeug in der Hand und wollte es gerade öffnen.
»Oh, ich dachte nicht an Mogget«, sagt er, »zumindest nicht jetzt. Ich überlegte, wie ich dieses Loch am besten zunähen könnte. Mit einem Flicken, nehme ich an.«
Lirael lachte halbherzig auf.
»Ich bin froh, dass du so praktisch denkst«, sagte sie. »Mir will einfach nicht aus dem Sinn, was geschehen ist. Dass die Glocken zu läuten versucht haben… die weiße Frau… Astarael… die Gegenwart des Todes.«
Sam wählte eine große Nadel und biss ein Stück Faden von der Spule. Er runzelte die Stirn, als er einfädelte, und als er sprach, blickte er nicht Lirael an, sondern betrachtete den Feuerball der untergehenden Sonne.
»Es ist seltsam, weißt du. Seit ich weiß, dass du die Abhorsen-Nachfolge antrittst, nicht ich, habe ich keine Furcht mehr. Natürlich habe ich hin und wieder Angst, aber das ist nicht dasselbe. Ich trage jetzt keine Verantwortung. Ich meine, natürlich habe ich eine Verantwortung, weil ich ein Prinz des Königreichs bin, aber ich bin jetzt für normale Dinge verantwortlich und nicht für Magier, Tod oder Wesen der Freien Magie.«
Er hielt inne, um das Ende des Fadens zu knoten, und diesmal blickte er Lirael an.
»Und die Sendlinge gaben mir diesen Wappenrock mit der Kelle… der Kelle der Mauerbauer. Als sie es taten, war es so, als würden meine Ahnen mir sagen, dass es gut ist, Dinge zu bauen… dass es meine Aufgabe ist, Dinge zu bauen und den Abhorsen und dem König zu helfen. Deshalb tue ich mein Bestes. Und wenn mein Bestes nicht gut genug ist, habe ich zumindest alles getan, was in meiner Macht stand. Ich brauche nicht zu versuchen, jemand anders zu sein… jemand, der ich nie sein könnte.«
Lirael antwortete nicht. Stattdessen blickte sie der Hündin entgegen, die mit dem schlaffen Kaninchen im Maul zurückkehrte.
»Abbadeschen«, verkündete die Hündin und wiederholte es verständlicher, nachdem sie Lirael das Kaninchen vor die Füße geworfen hatte. Ihr Schwanz hatte wieder zu wedeln begonnen, nur an der Spitze. »Abendessen. Ich bringe noch eins.«
Lirael hob das Kaninchen auf. Die Hündin hatte ihm das Genick gebrochen. Es war sofort tot gewesen. Lirael spürte seinen Geist ganz nah im Tod, doch sie schirmte sich ab. Das Tier hing schwer in ihrer Hand, und sie wünschte sich, sie hätten bloß das Brot und den Käse gegessen, die sie von den Sendlingen bekommen hatten. Aber Hunde sind nun mal Hunde, ging es ihr durch den Kopf, und wenn Kaninchen locken…
»Ich häute es ab«, erbot sich Sam.
»Wie bereiten wir es zu?«, fragte Lirael und gab ihm erleichtert das Tier. Sie hatte früher schon Kaninchen gegessen, aber nur roh, in ihrer Chartergestalt einer Eule, oder zubereitet in den Speiseräumen der Clayr.
»An einem kleinen Feuer unter einem der Felsen«, antwortete Sam. »Den Rauch wird man nicht sehen, und die Flammen können wir abschirmen.«
»Ich überlasse es dir«, sagte Lirael. »Die Hündin wird ihren Anteil roh fressen, nehme ich an.«
»Du solltest ein wenig schlafen«, sagte Sam, während er die Schärfe der Klinge seines Messers mit dem Daumen prüfte. »Du hast eine Stunde Zeit, während ich das Kaninchen zubereite.«
»Wie rührend du dich um deine alte Tante kümmerst«, sagte Lirael lächelnd. Sameth war nur zwei Jahre jünger als sie, aber sie hatte ihm einmal erzählt, dass sie viel älter sei, und offenbar hatte er ihr geglaubt.
»Ich helfe der Abhorsen-Nachfolgerin«, erwiderte Sameth und verneigte sich. Dann machte er mit geübter Bewegung einen Schnitt und zog die Haut in einem Stück vom Kaninchen, als würde er ein Kissen abziehen.
Lirael sah ihm einen Moment zu; dann wandte sie sich ab, legte sich auf den steinigen Boden und bettete ihren Kopf auf dem Rucksack. Es war unbequem, vor allem, da sie noch die Rüstung und die Stiefel trug, aber das spielte keine Rolle. Sie lag auf dem Rücken, blickte zum Himmel und beobachtete, wie der letzte blaue Schimmer verschwand, die Schwärze kam und die Sterne zu funkeln begannen. Sie spürte keine toten Wesen in ihrer Nähe und nahm nichts wahr, was auf Freie Magie hätte schließen lassen.
Die Müdigkeit überwältigte sie. Sie blinzelte zwei-, dreimal; dann fielen ihr die Augen zu und sie versank in tiefen Schlaf.
Als sie erwachte, war es dunkel, bis auf das Licht von den Sternen und den roten Schein eines abgeschirmten Feuers. Sie sah die Umrisse der Hündin in der Nähe. Sam konnte sie zuerst nirgends
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