Das alte Königreich 03 - Abhorsen
erblicken; dann aber sah sie ein mannsgroßes dunkles Bündel am Boden ausgestreckt.
»Wie spät ist es?«, flüsterte sie. Die Hündin wandte den Kopf und kam zu ihr.
»Fast Mitternacht. Wir hielten es für das Beste, dich schlafen zu lassen. Dann habe ich Sam überzeugt, dass es sicher genug sei, dass er ebenfalls schläft, während ich wache.«
»Das war bestimmt nicht einfach«, meinte Lirael und richtete sich stöhnend auf, da ihre Muskeln steif geworden waren und schmerzten. »Und? Ist etwas passiert?«
»Nein. Alles ruhig, abgesehen von den üblichen Geräuschen der Nacht. Ich nehme an, dass Chlorr und die Toten noch immer das Haus beobachten, und dass sie es noch viele Tage lang tun werden.«
Lirael nickte, als sie sich zwischen den Steinen hindurch zur Quelle tastete. Das Wasser, in dem sich der Schein der Sterne spiegelte, war der einzige helle Fleck in der stillen, dunklen Nacht. Lirael wusch sich Hände und Gesicht; der Schock des kalten Wassers vertrieb den Rest von Schlaf und Müdigkeit.
»Hast du meinen Teil des Kaninchens gegessen?«, flüsterte Lirael auf dem Weg zurück zu ihrem Rucksack.
»Nein!«, rief die Hündin entrüstet. »Als ob ich so etwas tun würde! Außerdem hat Sameth das Fleisch im Topf gelassen, der obendrein noch zugedeckt war.«
Lirael ging zu dem kleinen schmiedeeisernen Reisetopf an der verlöschenden Feuerstelle. Die Kaninchenstücke waren überlang gegart, aber der Eintopf war noch warm und schmeckte sehr gut. Entweder hatte Sam Kräuter gefunden, oder die Sendlinge hatten welche eingepackt. Doch Lirael war dankbar, dass sie keinen Hauch Rosmarin entdeckte. Den Geruch hätte sie nicht ertragen.
Als sie gegessen hatte, sich die Hände wusch und den Topf an der Quelle säuberte, ging langsam der Mond auf. Wie Sam gesagt hatte, war er mehr als drei viertel voll, und der Himmel war klar. Im Mondlicht konnte Lirael am Boden deutlich Einzelheiten ausmachen. Das Licht würde reichen, um den Aufstieg zu wagen.
Sam war sofort hellwach, als Lirael ihn schüttelte, und seine Hand fuhr zum Schwert. Sie sprachen kein Wort, denn die Totenstille ließ auch sie verstummen. Lirael warf Erde auf die Feuerstelle, um sie zu verbergen, während Sam das Gesicht wusch. Dann halfen sie einander, die Rucksäcke umzuschnallen, während die Hündin umherflitzte und vor Eifer mit dem Schwanz wedelte.
Die Stufen begannen in einem tiefen Einschnitt, der zwanzig Meter in die Klippe hineinführte, so dass es zuerst so aussah, als würden sie in einen Tunnel gelangen. Doch der Pfad blieb zum Himmel hin offen, machte bald eine Biegung und verlief in westlicher Richtung entlang der Klippe aufwärts. Jede Stufe war von genau der gleichen Größe – in Höhe, Breite und Tiefe –, was einen gleichmäßigen, verhältnismäßig einfachen, aber dennoch anstrengenden Aufstieg gewährleistete.
Während sie emporstiegen, erkannte Lirael, dass die Klippe nicht eine einzige fast senkrechte Felswand war, sondern aus Hunderten zerklüfteter Wände bestand, als hätte man einen Stapel Papier aufgerichtet, wobei viele einzelne Blätter nach unten gerutscht waren. Der Stufenpfad verlief hauptsächlich zwischen und auf den Wänden, bis er abbog und tiefer in die Klippe hineinführte, um die nächsthöhere Wand zu erreichen.
Der Mond wanderte während ihres Aufstiegs weiter und der Himmel wurde heller. Wann immer sie anhielten, um Rast zu machen, blickte Lirael auf das Land hinunter, zu den fernen Bergen im Süden und der silbernen Spur des Ratterlin im Osten. Sie war oft in Eulengestalt über den Clayr-Gletscher und die Zwillingsberge Sternenberg und Abendberg geflogen, aber das war etwas anderes. Die Sinne einer Eule vermittelten andere Eindrücke, und damals hatte sie gewusst, dass sie in der Morgendämmerung wieder in der Behaglichkeit ihres Bettes sein würde, in Sicherheit in der Feste der Clayr. Diese Flüge waren pures Abenteuer gewesen. Jetzt war die Lage wesentlich ernster, und sie konnte sich nicht wie einst an der kühlen Nachtluft und dem Mondschein erfreuen.
Auch Sam blickte übers Land hinweg. Er konnte die Mauer im Süden nicht sehen; sie war jenseits des Horizonts, doch er erkannte die Berge, darunter Barhedrin, auf dem sich ein Charterstein befand und seit der Restauration ein Turm, der südlichste Stützpunkt der Garde. Jenseits der Mauer lag das Land Roble. Es war ein seltsames Land, selbst für Sameth, der dort die Schule besucht hatte. Ein Land ohne die Charter oder Freie Magie, außer in den
Weitere Kostenlose Bücher