Das alte Königreich 03 - Abhorsen
senkte einen Flügel. Augenblicklich kippte sie in die Tiefe und flatterte verzweifelt, als ihr klar wurde, dass sie die Geschwindigkeit falsch eingeschätzt hatte, so dass es eine Bruchlandung geben würde.
Das Flattern minderte den Aufprall. Sam kam auf die Beine, überzeugte sich, dass ihm seine aufgeschlagenen Knie noch gehorchten, und lief zu der riesigen Eule, die nicht weit von ihm lag und offenbar das Bewusstsein verloren hatte.
»Lebst du noch?«, fragte er besorgt. Er wusste nicht, wie er sich davon überzeugen sollte. Wie fühlte man den Puls bei einer Eule, noch dazu bei einer zwanzig Fuß langen?
Lirael gab keine Antwort, doch golden leuchtende Haarrisse begannen den riesigen Eulenkörper zu durchziehen. Die Linien liefen zusammen, bis Sam die einzelnen Charterzeichen erkennen konnte. Dann begann der ganze Körper so hell zu leuchten, dass Sam den Blick abwenden und die Augen bedecken musste.
Gleich darauf gab es nur noch das milde Zwielicht des Sonnenuntergangs auf der Seite des Alten Königreichs, und Lirael lag flach auf dem Bauch und stöhnte.
»Au! Jeder Muskel ist wund«, murmelte sie und stemmte sich langsam hoch. »Und ich fühle mich scheußlich! Diese Charterhaut ist schlimmer als der Schlamm. Wo ist die Hündin?«
»Hier, Gebieterin«, meldete sich die Fragwürdige Hündin, flitzte herbei und fuhr Lirael mit der feuchten Zunge über den Mund. »Das hat Spaß gemacht. Besonders, als du den Mann über den Haufen geflogen hast.«
»Das war keine Absicht«, sagte Lirael und stützte sich auf dem Rücken der Hündin ab, um aufzustehen. »Ich war genauso überrascht wie er. Hoffen wir, dass wir genug Zeit gewonnen haben.«
»Wenn wir heute Nacht die Mauer und das Grenzgebiet überqueren, müssten wir vor Hedge da sein«, meinte Sam. »Wie schnell kann so ein Kahn schon sein?«
Es war eine rhetorische Frage, doch sie wurde beantwortet.
»Mit einer beschworenen Brise könnten sie mehr als sechzig Meilen an einem Tag in und einer Nacht segeln«, erklärte Mogget belehrend aus dem Rucksack heraus. »Ich nehme an, sie erreichen den Rotmund heute Mittag. Von dort ist es schwer zu sagen. Es hängt davon ab, wie schnell sie die Hemisphären transportieren können. Vielleicht sind sie schon drüben. Die Zeit zwischen dem Alten Königreich und Ancelstierre ist verschoben. Hedge könnte mit Hilfe des Zerstörers den Unterschied beeinflussen, um einen Tag zu gewinnen… oder mehr.«
»Dir kann wohl nichts die gute Laune verderben, was, Mogget?«, sagte Lirael. Zu ihrer eigenen Überraschung war auch sie selbst bester Laune und längst nicht mehr so müde, wie sie gedacht hatte. Insgeheim war sie stolz, dass die große Charterhaut funktioniert hatte, und sie war sicher, dass sie Hedge und die Kähne überholt hatten.
»Wir müssen sofort weiter«, sagte sie. Es hatte wenig Sinn, die Äpfel zu zählen, bevor ein Baum gepflanzt war. »Sam, ich habe mir bis jetzt keine Gedanken darüber gemacht, aber wie kommen wir nach Ancelstierre? Und wie gelangen wir über die Mauer?«
»Die Mauer ist die leichtere Übung«, erwiderte Sam. »Es gibt viele alte Tore. Sie sind verschlossen und bewacht, bis auf das Tor am derzeitigen Grenzübergang, doch ich bin sicher, dass ich es öffnen kann.«
»Ich bezweifle es nicht«, meinte Lirael ermutigend.
»Das Grenzgebiet ist in mehrerer Hinsicht schwieriger. Dort wird ohne Vorwarnung geschossen. Die meisten Truppen halten sich zwar in der Nähe des Grenzüberganges auf, so dass wir so weit im Westen höchstens auf eine Patrouille stoßen werden. Um ganz sicherzugehen, dachte ich, wir könnten in die Rollen eines Offiziers und eines Sergeanten der Grenzwächter schlüpfen. Du spielst den Sergeanten… mit einer Kopfwunde, so dass du nicht reden musst und uns in Schwierigkeiten bringen kannst. Das nehmen sie uns vielleicht ab. Zumindest werden sie uns nicht gleich erschießen.«
»Was ist mit der Hündin und Mogget?«
»Mogget kann in meinem Rucksack bleiben«, sagte Sam. Mit einem Blick über die Schulter auf den Kater fügte er hinzu: »Aber du musst versprechen, still zu sein, Mogget. Mit einem sprechenden Rucksack sind wir so gut wie tot.«
Mogget gab keine Antwort. Sam und Lirael werteten es als eine Zustimmung, da er nicht protestierte.
»Wir können auch die Hündin maskieren«, fuhr Sam fort. »Dass sie aussieht, als hätte sie ein Halsband und einen Harnisch an – wie die Armeespürhunde.«
»Was spüren diese Hunde auf?«, fragte die Fragwürdige Hündin
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