Das alte Königreich 03 - Abhorsen
Päckchen«, fuhr er fort. »Sie blickte in den Sprühnebel über dem Wasserfall. Es gab einen Regenbogen an diesem Tag, aber den sah sie nicht. Ihre Augen verschleierten sich, als sie die Sicht hatte und sagte: ›Du wirst mit meiner Tochter an der Mauer stehen. Du wirst sie als junge Frau sehen, was mir nicht vergönnt ist. Sag Lirael, dass es nicht mein Wille war, fortzugehen. Ich habe ihr Leben und meines mit den Abhorsen verknüpft und damit sowohl Mutter als auch Tochter auf einen Lebensweg geschickt, der uns nicht immer eine Wahl lässt.
Sag ihr auch, dass ich sie liebe und immer lieben werde, und dass es mir das Herz bricht, sie verlassen zu müssen.‹«
Lirael lauschte gespannt, und es war nicht Moggets Stimme, die sie vernahm, sondern die ihrer Mutter. Als der Kater geendet hatte, blickte sie zum rötlichen Abendhimmel empor und zu den funkelnden Sternen jenseits der Mauer, und im letzten Abendlicht zog eine Träne eine silberne Spur über ihre Wange.
»Deine Maske ist fertig«, sagte Sam, der so in seine Beschwörungen vertieft war, dass er nicht mitbekommen hatte, was der Kater sagte. »Du brauchst nur hineinzusteigen. Aber lass die Augen dabei geschlossen.«
Lirael stolperte auf den leuchtenden Umriss in der Luft zu. Sie hatte die Augen geschlossen, als sie in den Zauber stieg. Der goldene Schein strich über ihr Gesicht wie warme, liebevolle Hände, die ihre Tränen fortwischten.
15
Die Grenzzone
»Sarge, es gibt keinen Zweifel. Da draußen bewegt sich was«, flüsterte Lance Corporal Horrocks, als er über die Visiereinrichtung seines Maschinengewehrs blickte. »Soll ich es mit ein paar Schüssen aufscheuchen?«
»Bei allen bösen Geistern, nein«, flüsterte Sergeant Evans zurück. »Wissen Sie denn gar nichts? Wenn es ein Spuk ist oder ein Ghlim oder etwas Ähnliches locken Sie ihn damit nur her, und er saugt Ihnen die Eingeweide aus! Scazlo… gehen Sie nach hinten und informieren Sie den Lieutenant. Ihr anderen sagt es weiter: Bajonette aufstecken. Aber leise. Und keiner tut etwas ohne meinen Befehl.«
Scazlo eilte durch den Verbindungsgraben hinter ihnen. Von überall im Hauptschützengraben war das leise Klicken der Bajonette zu vernehmen. Evans spannte seinen Bogen und lud eine Leuchtpistole mit einer roten Patrone. Rot war das Zeichen für Eindringlinge von der Mauer. Ein warmer nördlicher Wind blies aus dem Alten Königreich herein. Er war angenehm, weil er die Kälte aus dem eisigen Schlamm der Gräben fegte, wo der Frühling noch nicht genug Kraft hatte, aber es bedeutete auch, dass Schusswaffen, Flugzeuge, Leuchtsignale, Minen und alle anderen technischen Dinge möglicherweise nicht funktionierten.
»Es sind zwei… und noch etwas, das wie ein Hund aussieht«, flüsterte Horrocks wieder. Sein Abzugsfinger löste sich langsam von der üblichen Position am Bügel.
Evans starrte in die Dunkelheit und versuchte, selbst etwas zu erkennen. Horrocks war nicht der Klügsten einer, besaß jedoch ein außerordentliches Nachtsehvermögen – wesentlich besser als Evans. Der konnte gar nichts sehen.
Plötzlich schlugen Blechdosen am Draht gegeneinander. Jemand… oder etwas… näherte sich langsam.
Horrocks’ Finger war nun innerhalb des Abzugsbügels. Die Waffe war entsichert, eine volle Trommel aufgesteckt, eine Patrone in der Kammer. Er wartete nur auf den Befehl und darauf, dass der Wind sich vielleicht drehte.
Dann seufzte er plötzlich. Sein Finger kam wieder aus dem Bügel, und er lehnte sich zurück.
»Die sehen aus wie welche von uns«, sagte er. Er flüsterte nicht mehr. »Grenzwächter. Ein Offizier und ein armer Teufel mit verbundenem Kopf. Und einer von diesen… Sie wissen schon, Schnupperhunden.«
»Spürhunde«, verbesserte Evans ihn nachdenklich und fügte dann in leisem Befehlston hinzu: »Und jetzt halten Sie lieber den Mund, Lance Corporal.«
Evans überlegte, was er tun sollte. Er hatte noch nicht gehört, dass Wesen aus dem Alten Königreich die Gestalt eines ancelstierrischen Offiziers oder eines Armeehundes annahmen. Fast unsichtbare Schatten, ja. Normal aussehende Leute aus dem Alten Königreich, ja. Fliegende Teufel, ja. Aber es gab immer ein erstes Mal…
»Was ist los, Evans?«, fragte eine Stimme hinter ihm, und er bemühte sich, seine Erleichterung zu verbergen. Lieutenant Tindall mochte der Sohn eines Generals sein, aber er war kein unerfahrener Stabsoffizier. Ihm konnte im Grenzgebiet keiner etwas vormachen. Das Charterzeichen auf seiner
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