Das alte Königreich 03 - Abhorsen
über die Mauer zu gelangen. Aber sie sind nicht das Problem.«
Drewe drehte am Schärfenrad, schlug mit dem Fernglas gegen den Helmrand und wünschte sich, vor Berl eine bessere Figur zu machen.
Zuerst konnte er überhaupt nichts sehen. Als das Bild dann scharf wurde, erkannte er die rennenden Gestalten. Es waren Tausende. Männer mit blauen Hüten, Frauen mit blauen Tüchern und ganz in Blau gekleidete Kinder. Sie warfen Bretter auf den Stacheldraht, um ihn zu überklettern, oder krochen darunter hindurch, wo es möglich war. Einige hatten das Niemandsland erreicht und waren fast schon an der Mauer. Drewe schüttelte bei diesem Anblick verständnislos den Kopf. Warum, um aller Geister willen, versuchten diese Leute, ins Alte Königreich zu gelangen?
Und als wäre dies alles noch nicht verwirrend genug, sah er mehrere Südlinge, die soeben die Mauer erreicht hatten, plötzlich wieder zurückeilen…
»Weiß das Perimeter-Hauptquartier über diese Leute Bescheid?«, fragte er. Da unten war eine Armeestellung, mindestens eine Kompanie in den hinteren Gräben, mit Beobachtungs- und Horchposten nach sämtlichen Richtungen. Was war mit den Männern los?
»Die Telefone werden nicht funktionieren«, sagte Berl grimmig. »Außerdem sind diese Leute nicht das Problem. Sehen Sie sich die Vorderfront des Nebels an, Sir!«
Drewe fuhr herum. Der Nebel bewegte sich schneller, als er gedacht hatte, und war erstaunlich regelmäßig. Fast wie eine Mauer aus Dunst, die sich auf eine Mauer aus Stein zubewegte. Ein gespenstischer Nebel, dessen Inneres Blitze erhellten…
Drewe schluckte, blinzelte, fummelte wieder an der Schärfeneinstellung und konnte nicht glauben, was er sah. Da waren Kreaturen im Nebel, die einst Menschen gewesen sein mochten. Er hatte Geschichten über solche Wesen gehört, als er einst Küstendienst im Norden schob, hatte aber nicht daran geglaubt. Wandelnde Leichen, grässliche Monster, guter und böser Zauber, wie dort im Nebel…
»Diese Südlinge haben nicht die geringste Chance«, flüsterte Berl. »Ich bin im Norden aufgewachsen. Ich habe gesehen, was vor zwanzig Jahren in Bain geschehen ist…«
»Beruhigen Sie sich, Berl«, befahl Drewe. »Kerrick!«
Kerrick steckte den Kopf zur Tür herein.
»Kerrick, holen Sie sich ein Dutzend rote Raketen und feuern Sie sie ab. Alle drei Minuten eine.«
»R…rote Raketen, Sir?«, fragte Kerrick zitternd. Rote Raketen waren das höchste Notsignal für den Leuchtturm.
»Ja, rote Raketen! Vorwärts!«, brüllte Drewe. »Berl! Ich will alle Männer außer Kerrick in fünf Minuten draußen versammelt sehen, in Kampfanzug und mit Gewehr!«
»Gewehre werden nicht funktionieren, Sir«, sagte Berl traurig. »Und diese Südlinge hätten den Perimeter nicht durchqueren können, wäre die Garnison noch am Leben. Eine ganze Armeekompanie war dort unten…«
»Ich habe Ihnen einen Befehl gegeben! Führen Sie ihn aus!«
»Sir, wir können ihnen nicht helfen«, sagte Berl bittend, »Sie wissen nicht, wozu diese Kreaturen fähig sind! Unser Auftrag ist es, den Leuchtturm zu verteidigen, und nicht…«
»Coxswain Berl«, sagte Drewe steif. »Weshalb auch immer die Armee versagt hat, die Königliche Ancelstierrische Marine hat niemals tatenlos zugesehen, wenn Unschuldige sterben. Und wir werden unter meinem Kommando nicht den Anfang machen!«
»Aye, aye, Sir«, sagte Berl, hob eine muskulöse Hand zum Salut und hieb damit plötzlich auf den Hals Drewes, direkt unter dem Helmrand des Offiziers. Der Lieutenant sank in Berls Arme, und der Obermaat legte ihn vorsichtig zu Boden und nahm ihm Revolver und Säbel ab.
»Worauf warten Sie noch, Kerrick? Schießen Sie diese verfluchten Raketen ab!«
»Aber was wird mit…«
»Wenn er zu sich kommt, geben Sie ihm einen Becher Wasser und sagen Sie ihm, dass ich das Kommando übernommen habe«, befahl Berl. »Ich bin unten und bereite die Verteidigung vor.«
»Verteidigung?«
»Alle diese Menschen dort kamen aus dem Süden direkt durch die Linien. Es ist also bereits etwas auf dieser Seite, das die Soldaten ausgeschaltet hat. Etwas Totes, da bin ich sicher. Und wir werden die Nächsten sein. Also schießen Sie die Raketen ab!«
Der Obermaat brüllte die letzten Worte, während er durch die Klapptür stieg und sie hinter sich schloss.
Der Hall der zufallenden Tür war noch nicht verklungen, da hörte Kerrick die ersten Rufe von unten. Sie kamen vom Hof herauf. Dann waren ein Durcheinander von Rufen und ein schrecklicher
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