Das Amulett der Macht
irgendwo hinmöchtest …«
»Ich muss hier bleiben«, sagte sie. »Ich warte auf Ismail.«
»Wer ist Ismail?«
»Ein Freund«, antwortete Lara. »Ich habe ihn zur Bibliothek geschickt, damit er ein paar Bücher für mich beschafft.«
Mason runzelte die Stirn. »Ich dachte, du bist gerade von der Bibliothek gekommen?«
»Ich bin dort etwas überstürzt aufgebrochen.«
»Was soll er dir denn bringen?«
»Bücher über Gordon«, sagte sie.
»Irgendwelche spezielle Bände?«
»Nein. Ich muss nur mehr über ihn herausfinden, darüber, wie sein Verstand funktionierte. Ich weiß, dass er ein brillanter General und fast schon fanatisch religiös war, aber das bringt mich kaum weiter. Ich muss in seine Haut schlüpfen. Er hat das Amulett, und der Mahdi hat einen sechzigtägigen Waffenstillstand ausgerufen. Er weiß nicht sicher, ob die Stadt zehn Monate durchhalten kann, wie sie es letztlich getan hat; sie könnte in zwei Monaten fallen oder in sechs Wochen. Oder an dem Tag, da der Waffenstillstand endet. Er muss sich beeilen, wenn er das Amulett verstecken will. Er weiß, dass er beobachtet wird, deshalb schickt er Colonel Stewart zur Ablenkung bis nach Edfu. Was tut er jetzt als Nächstes?«
»Er versteckt es natürlich«, sagte Mason. »Und er muss es innerhalb der Stadt verstecken.«
»Nicht unbedingt.«
»Aber er hatte die Stadt in eine Insel verwandelt«, merkte Mason an. »Er konnte sie nicht verlassen.«
»Er hat den Graben erst einen Monat vor Beginn der Belagerung geflutet und die Stadt damit isoliert«, sagte Lara. »Das immerhin habe ich heute Morgen im Nationalmuseum herausgefunden. Damit hatte er also dreißig Tage Zeit, um es aus Khartoum hinauszuschaffen.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Mason. »Er war der bekannteste Mann im Sudan, wahrscheinlich sogar bekannter als der Mahdi. Er hätte unmöglich die Stadt verlassen können, ohne erkannt zu werden.«
»Er hat sie nicht verlassen«, antwortete Lara. »Er führte Tagebuch, daher wissen wir, wo er sich zu jeder Zeit aufhielt, aber das heißt ja nicht, dass das Amulett in der Stadt geblieben sein muss.«
»Das ist mir ein bisschen zu weit hergeholt«, fand Mason. »Es befindet sich irgendwo in Khartoum.«
»Vielleicht«, meinte sie. »Ich weise ja nur daraufhin, dass er es von einem vertrauten Helfer hätte fortbringen lassen können – wahrscheinlich von einem Sudanesen, da die Briten, die zu retten er hier war, zu leicht aufgefallen wären.«
»Er hätte eine Menge Dinge tun können « , sagte Mason. »Du machst das Ganze zu kompliziert. Die Antwort findet sich hier, in Khartoum.«
»Möglich«, sagte sie. »Ich versuche nur, gewissenhaft zu sein und die Stadt – wie auch den Feind und die Welt an sich – so zu sehen, wie Gordon sie gesehen haben muss.«
»Mir will nicht in den Kopf, warum er das verdammte Ding nicht benutzt hat«, sagte Mason. »Als er es endlich hatte, warum hat er seine Macht nicht gegen den Mahdi eingesetzt? Wie konnte er sich davon trennen?«
»Du vergisst seine Natur«, erwiderte Lara. »Er war ein gläubiger Christ, er muss das Amulett für ein Werkzeug des Teufels gehalten haben. Lieber hätte er dem Mahdi die Stadt kampflos überlassen, als seine Seele durch die Benutzung des Amuletts zu beschmutzen.«
»Aber muss man aufgrund der Andeutungen, die du erhalten hast, nicht annehmen, dass das Amulett selbst dazu etwas zu sagen gehabt hätte? Niemand und nichts will sterben oder versteckt werden, nicht einmal ein mystisches Artefakt.«
»Es mag zwar imstande sein, mit dir oder mir Kontakt aufzunehmen«, sagte Lara, »aber wenn es versucht hätte, Gordon zu beeinflussen, hätte er es wohl nie wieder angefasst. Er hätte es in irgendeine Kiste gesperrt und wäre es so schnell wie möglich losgeworden.«
Sie sprachen noch eine Stunde über Gordon, dann klopfte es leise an der Tür. Hassam ging hin, den Dolch in der Hand, und zog die Tür einen Spalt breit auf. Draußen stand Ismail mit einem Stapel Bücher. Hassam steckte seine Waffe weg, nahm die Bücher entgegen und schloss die Tür wieder.
»Gut!«, sagte Lara. »Die Hausaufgaben für heute Nacht.«
Hassam legte die Bücher auf einem Couchtisch ab.
»Sechs Bände«, sagte sie zu Mason. »Das macht drei für jeden von uns.«
»Einverstanden«, sagte er. »Sie sehen ziemlich alt aus, und es könnte nicht schaden, mit einem Staubtuch drüberzuwischen. Ich wette, sie wurden jahrelang nicht gelesen.« Er betrachtete die Buchrücken. »Wenigstens
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