Das Amulett der Pilgerin - Roman
wollt, ich werde aufbrechen, und zwar nach Westminster. Einer muss ja Bericht erstatten, was hier alles schiefgegangen ist.«
»Mach das, ist auch richtig, dass es derjenige tut, der es verbockt hat.«
»Was meinst du damit?« Miller wurde wütend.
»Warum erstattet denn Thorn nicht Bericht?«, fragte Terrence provozierend.
»Das weiß ich doch nicht! Das ist mir auch gleichgültig. Ich habe hier nur versucht, meine Pflicht zu tun, und habe jetzt genug von diesem eigenmächtigen Lavieren.« Miller drehte sich auf den Hacken um und marschierte die Straße runter.
»Ich brauche ein Frühstück, sonst kann ich nicht klar denken«, brummte Terrence und dirigierte Emmitt in die nächste Schenke. Sie bestellten Eier und Speck und Bier.
»Ich kann das nicht glauben, dass der Wärter den Gefangenen noch erwischt haben soll. Nicht in seinem Zustand. Selbst wenn er unverletzt gewesen wäre, wäre es ein guter Wurf gewesen«, betonte Emmitt nachdrücklich. Terrence wischte sich den Schaum vom Mund und stellte seinen Krug ab.
»Es ist jetzt völlig gleichgültig, was passiert ist. Tatsache ist, dass unser einziger Zeuge, der Julian hätte entlasten können, jetzt in der Hölle schmort und keine Aussage mehr machen kann.«
»Aber wir haben doch seine Aussage gehört.«
Terrence wog den Kopf hin und her.
»Taten beweisen mehr als Worte, und es ist eine Tatsache, dass die Liste weg ist und Julian auch.«
»Wo ist Thorn? Ist der nicht auch weg?«
»Glaub mir, der wird mit einer guten Begründung schon bald wieder auftauchen.«
»Wie will er erklären, dass er mit dem Kurier zusammen nach London geritten ist?«
»Wieso? Er hat weitere Ermittlungen durchgeführt. Der Kardinal wird sicher nicht erfreut sein, dass Thorn den Kurier hat laufen lassen, aber er selbst hatte ja das Gleiche vor. Nur da wusste noch niemand, dass Julian zu den Verrätern gehörte.«
Emmitt rieb sich die Schläfen.
»Ja, mein Junge, es ist kompliziert.« Terrence bestellte noch zwei Krüge Bier.
»Was machen wir jetzt?«
»Jetzt essen wir, trinken unser Bier und machen uns dann auf den Weg nach London, um Julian zu finden oder Thorn, einen von beiden.«
• 27 •
S ie wusste nicht, wie lange sie gewartet hatte, bis Melchors regelmäßiges Atmen ihr sagte, dass er schlief. Vorsichtig hob sie den Kopf von seiner Schulter und rückte ein Stückchen von ihm ab. Er seufzte, rutschte in eine bequemere Position und schlief sogleich wieder tief ein. Viviana blickte in den Schlafsaal. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Sie lauschte. Die geflüsterten Unterhaltungen waren beendet worden, und es war nichts zu hören außer vereinzeltem Schnarchen. Schlaflosigkeit war selten das Problem der einfachen Menschen, die den ganzen Tag über hart arbeiteten. Ein erschöpfter Körper suchte sich seinen Schlaf. Wenn aber der Geist geschäftiger als der Körper war, war es schwer, ihn zur Ruhe zu bringen, und man lag nachts lange wach. Viviana betrachtete Melchor, der auf dem Rücken lag. Rinaldos Anhänger steckte unter seiner Jacke, er zeichnete sich deutlich ab. Dieser Talisman, oder was immer es auch war, musste sehr wichtig für den Spanier sein. Melchor hatte ihn an sich genommen, um Rinaldo zu quälen. Er hatte nicht einmal genug Interesse an dem Ding gehabt, um nachzusehen, was es war. In der Position, in der Melchor schlief, war es unmöglich, ihm den Anhänger von der Brust zu ziehen, ohne dass er aufwachte. Sie musste ihn dazu bewegen, sich auf die Seite zu rollen. Vorsichtig und langsam bohrte sie ihren Finger in seine Seite. Nach einer Weile nahm er die Störung wahr und bewegte sich davon weg, er rollte sich auf die Seite. Jetzt lag er mit dem Rücken zu Viviana. Sie glitt lautlos vom Lager und kroch auf allen vieren um das Bett herum. Wieder warf sie einen Blick in die Runde, aber die zahlreichen Augen um sie herum waren alle geschlossen. Melchor lag zwar auf der Seite, aber seine Arme waren vor seiner Brust verschränkt. Viviana hockte vor dem Bett und überlegte, wie sie das Pergament am besten aus seiner Jacke ziehen könnte. Es war wie verhext. Sie würde ihn nochmals bewegen müssen. Entmutigt strich sie sich mit der Hand über das Gesicht. Sie hob den Kopf und blickte aus dem gegenüberliegenden Fenster. Still lag die nächtliche Landschaft in tiefem Frieden. Sie könnte jetzt einfach gehen. Sehnsucht erfüllte ihr Herz. Sie hörte, wie Melchor schluckte, und richtete ihre Augen wieder auf das Bett. Er sah sie an, und Viviana
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