Das Amulett der Pilgerin - Roman
erstarrte. Sein Blick war jedoch seltsam leblos, dann schloss er die Augen wieder. Viviana huschte um das Bett herum und lag auch schon wieder neben ihm, als er vollständig erwachte. Sie hatte die Augen geschlossen und spürte, wie er sich aufrichtete und über sie beugte. Dann hörte sie, wie er unter seiner Jacke nach dem Pergament suchte. Mit einem Seufzer ließ er sich zurück auf die Matratze sinken und schlang den Arm um sie. Seine Finger tasteten nach ihren Brüsten. Wieder fühlte Viviana Widerwillen in sich aufsteigen. Sie seufzte und rollte sich auf den Bauch, und er ließ von ihr ab. Heute Nacht konnte sie nichts mehr ausrichten, dachte Viviana, aber an Schlaf war auch nicht mehr zu denken.
Der Morgen graute, und die ersten Vögel machten einen solchen Lärm, dass gleich mehrere Gäste aufwachten. Kurz darauf krähte der Hahn. Viviana beobachtete, wie die Menschen um sie herum begannen, sich zu recken und zu strecken. Manche gähnten herzhaft oder kratzten sich im Halbschlaf ausgiebig an Stellen, denen sie sich sonst nicht so schamlos zugewandt hätten. Einige schliefen trotz der wachsenden Unruhe weiter. Sie spürte, wie Melchor sich neben ihr regte. Er schüttelte sie an der Schulter und küsste sie auf den Nacken. Viviana bekam eine Gänsehaut. Was war nur los mit ihr? Er war sicherlich nicht der widerwärtigste Mann, dem sie etwas vorgespielt hatte, aber jedes Mal, wenn er sie berührte, hätte sie ihn am liebsten von sich gestoßen. Viviana drehte sich um, lächelte verschlafen und stand dann aber sofort auf, um weiteren Zudringlichkeiten zu entgehen.
Eine Stunde später ritten sie durch das Nordtor.
»Wir werden hier eine erheblich bessere Unterkunft haben«, stellte Melchor fest und griff nach Vivianas Hand.
»Meinst du, dass es klug wäre, wenn wir gemeinsam hier gesehen werden?«
»Was meinst du?«
»Ich meine, du solltest das tun, was du sonst auch tust, wenn du in London bist. Das wird am wenigsten Verdacht erwecken. Ich werde mich irgendwo einquartieren und mit meinen Leuten Kontakt aufnehmen.«
Der Griff um ihre Hand wurde fester. Viviana wandte den Kopf und sagte in einem Tonfall, der gekränkt und etwas ungeduldig zugleich war: »Wenn ich hätte verschwinden wollen, hätte ich das schon längst getan, Melchor. Du hast doch die Liste. Traust du mir etwa nicht?«
Sie sah Unsicherheit in Melchors Blick und fügte hinzu: »Ich dachte, wir wollten das Gleiche, du und ich. Aber wenn du mir nicht vertraust, wie kann ich dir dann vertrauen? Und wenn ich dir nicht vertraue, dann kann ich auch nicht den Schlüsselcode für die Liste holen.« Vivianas Augen füllten sich eindrucksvoll mit Tränen. Melchor blickte etwas gehetzt um sich.
»Viviana, beruhige dich doch bitte wieder. Wir dürfen nicht auffallen.«
Schniefend ließ sie den Kopf hängen. Melchor tätschelte ihre Hand.
»Natürlich traue ich dir. Wir besprechen alles gleich in Ruhe, einverstanden?«
Sie nickte stumm.
Wenig später, sie hatten die Pferde in einem Mietstall untergestellt, saßen sie bei einem verspäteten Frühstück. Als sie gestern Mittag aus Saint Albans losgeritten waren, war Viviana kaum mehr als seine Gefangene gewesen, die ihm für ihr Leben den Schlüsselcode zur Entzifferung der Liste besorgen wollte. Jetzt jedoch – und Melchor wusste nicht recht, wie – war aus ihr eine gleichwertige Partnerin in dieser Verschwörung geworden, und sie verfolgten ein gemeinsames Ziel. Er betrachtete Viviana, die ihm gegenübersaß und ihre Suppe löffelte. Eine solch schöne Frau zu besitzen, erfüllte ihn mit Stolz. Es war ein angenehmes, erhabenes Gefühl. Er wusste, was die Männer an den anderen Tischen dachten, und lehnte sich zufrieden zurück. Aber konnte er ihr trauen? Sie hatte nicht versucht, die Liste an sich zu bringen oder zu flüchten. Wenn er sie gehen ließ, um diesen Meister Hektor zu treffen, was konnte schlimmstenfalls passieren? Sie könnte nicht wiederkommen. Der Gedanke bohrte sich wie ein Dorn in sein Fleisch. Wenn sie fortwollte, hätte sie schon früher eine Gelegenheit gefunden, beruhigte er sich wieder. Melchor verstand, dass Viviana allein Kontakt aufnehmen musste, ehe sie ihn ins Spiel brachte, denn sonst könnte man glauben, sie wäre übergelaufen oder würde gezwungen werden oder dergleichen. Trotzdem sagte ihm eine kleine Stimme, dass es gefährlich wäre, sie aus den Augen zu lassen. Er haderte mit sich. Allerdings wäre es gut, wenn er sich bei einem seiner Bekannten blicken lassen
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