Das Amulett der Pilgerin - Roman
gedacht.
»Wo ist Viviana?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Setzen Sie sich, wir haben viel Zeit.«
»Ich habe leider überhaupt keine Zeit und muss hier sofort wieder raus.« Julian hämmerte gegen die Tür, aber niemand kam. Rinaldo betrachtete seine Bemühungen mit dem nachsichtigen Ausdruck eines Mannes, der alle Fluchtversuche schon einmal erfolglos durchexerziert hatte.
Julian ließ von der Tür ab und lief rastlos hin und her. Was hatte Thorn vor? Er konnte nicht wirklich glauben, dass seine Anschuldigungen gegen ihn Bestand haben würden. Wollte er ihm bloß eins auswischen? Etwas anderes musste dahinterstecken. Es waren einfach zu viele Leute in diese Angelegenheit verwickelt, als dass alles immer nur ein Zufall sein könnte. Julian setzte sich schließlich an die gegenüberliegende Wand und blickte Rinaldo an.
»Und, wie ist es Ihnen ergangen, seit dem denkwürdigen Überfall im Wald?«
»Ich verlor mein Maultier und mein Gepäck.«
»Ihr Gepäck hätten wir Ihnen bis gestern gerne zurückgegeben, leider ist es jetzt verbrannt.«
Rinaldo schloss kurz die Augen, fragte aber dann: »Sie sprachen von ›wir‹, sind Sie mit Viviana nach Saint Albans gekommen?«
»Ja.«
»Geht es ihr gut? Hat sie ihr Gedächtnis wiedergefunden?«
Julian betrachtete Rinaldo. Nein, er hatte nichts mit der Sache zu tun. Trotzdem saß er hier im Loch, und die blauen Flecken und wunden Stellen auf seinem Körper waren ihm bei Thorns Befragung zugefügt worden. Julian selbst hatte Thorn auf den Spanier angesetzt. Er hatte alles falsch gemacht.
»Geht es ihr gut?«, wiederholte Rinaldo.
»Ja, es geht ihr gut.« Was hielt sie als Trumpf zurück, um sich jetzt noch loskaufen zu können?, überlegte Julian. Die ganze Zeit hatte sie gewusst, dass die Liste verschlüsselt war, und hatte nichts gesagt. Jeder von ihnen hatte seine Geheimnisse für sich behalten. Es konnte kein Vertrauen zwischen ihnen geben. Jeder war sich selbst am nächsten, und trotzdem hatte Viviana alles riskiert, um ihn aus dem Feuer zu retten. Es hatte Momente gegeben, in denen er sich ihr nahe gefühlt hatte, und doch hatten sich jetzt ihre Wege getrennt. Er konnte ihr nichts vorwerfen, sie hatte eine Möglichkeit gesehen, ihre Haut zu retten, und sie ergriffen. Sie schuldete ihm nichts, und doch fühlte er sich von ihr verlassen. Rinaldo wartete immer noch, dass Julian seine Antwort etwas ausführte.
»Bis auf ein paar Tage, in denen wir uns verloren hatten, bin ich bis heute mit ihr zusammen gereist.«
»Kann sie sich wieder erinnern?«
»Sie hat ihr Gedächtnis wiedergefunden, als wir in Shaftesbury waren.«
»Sie waren auch in Shaftesbury?«
»Ja, wir haben Sie knapp verpasst, Rinaldo.«
»Sie haben nach mir gesucht?«
»Allerdings, Viviana hat darauf bestanden.«
Ein Lächeln huschte über Rinaldos Gesicht, dessen Wangen jetzt nicht mehr rosig und prall waren, sondern schlaff herunterhingen.
»Sie hat sich wieder erinnert, und dummerweise stellte sich heraus, dass sie eine Agentin unserer Feinde ist.«
Julian überlegte kurz, wie viel er Rinaldo von der Angelegenheit erzählen sollte. Er würde die Wahrheit sagen, beschloss er, es machte jetzt keinen Unterschied mehr. Immerhin hatte er Rinaldo schuldlos in diese missliche Lage gebracht, also war es das Mindeste, was er ihm schuldig war. Rinaldo hörte Julian schweigend zu, ohne zu unterbrechen.
»Es tut mir leid, dass Sie da mit hineingezogen worden sind, Rinaldo. Ich werde mein Bestes versuchen, die Kanzlei zu überzeugen, dass Sie nichts mit der Sache zu tun hatten.«
»Es ist einfacher, einen Unschuldigen zu hängen, als einen Fehler zuzugeben.«
Rinaldo hatte sich bereits ein recht präzises Bild von Melchor Thorn gemacht, dachte Julian, der leider die mutlose Einschätzung des Spaniers teilte.
Plötzlich war ein Geräusch an der Tür zu hören, eine ebenerdige Klappe ging auf, und jemand schob ein Tablett mit zwei Schüsseln hinein. Julian war mit zwei Schritten bei der Klappe.
»Emmitt?«
Die Person hinter der Tür zögerte.
»Emmitt, was ist da draußen los? Hat Thorn die Liste entschlüsselt?«
»Mister Thorn hat die Liste nicht, Sir.«
»Wieso nicht? Wer hat sie dann?«
»Er sagt, dass Sie sie versteckt haben.«
»Ich? Vor weniger als einer Stunde hat er noch behauptet, die Liste zu haben, und wollte Viviana sie entschlüsseln lassen.« Es gab allerdings keine Zeugen für ihre Unterhaltung, durchfuhr es Julian.
Emmitt schwieg.
»Wo ist Viviana?«
»Das weiß
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