Das Amulett der Seelentropfen (Seelenseher-Trilogie) (German Edition)
einem Tisch. Zwei vor zehn. Ich stöhnte innerlich, als Ryan offensichtlich gerade jetzt entschieden hatte zu fragen, ob wir noch etwas wollten. Fast hätte ich schon mit Nein geantwortet, bevor er überhaupt anfangen konnte zu sprechen. Ich wollte nicht, dass er den Fremden verscheuchen würde, obwohl niemand in diesem Café auch nur Anstalten machte, zu unserem Tisch zu kommen. Überrascht starrte ich auf die Hand, die sich plötzlich in mein Blickfeld schob.
»Hallo ich bin Ryan Colter.«
Ich starrte verwirrt auf die Hand und dann in Ryans Gesicht. Was sollte das denn jetzt? Irgendwo piepste eine Digitaluhr und verkündete, dass es Punkt zehn war. Ryan lächelte mich immer noch an, seine Hand schwebte weiterhin unvermittelt zwischen uns. Wie in Trance schüttelte ich sie, während ich langsam anfing zu verstehen. Ryan hatte uns den Brief geschrieben. Deshalb war er so fröhlich gewesen, als wir etwas zu Essen bestellten. Da hatte er gewusst, dass wir bleiben würden, um ihn zu treffen. Nur hatten wir das noch nicht gewusst.
»Setz… dich… Ryan«, stammelte ich mehr, als dass es als vollständiger Satz aus meinem Mund kam. Er schüttelte den Kopf.
»Ich denke, es ist besser, wenn wir einen kleinen Spaziergang machen. Eure Rechnung ist bezahlt.«
Einen Spaziergang? Klar, es war ja auch nicht so, als würde es gerade in Strömen regnen. Bevor ich ablehnen konnte – da ich keine Lust auf eine Erkältung hatte – war Keira auch schon aufgesprungen und hatte sich die Jacke umgeworfen. Normalerweise war ich diejenige, die nichts gegen Regen hatte. Ich mochte Regen, wenn er nicht wie ein reißender Strom aus den Wolken brach. In Amalen war ich bei Regen oft draußen gewesen. Ich liebte den Geruch von Regen und den von nasser Erde. Aber seit Amalen war viel passiert und ich fühlte mich nicht völlig gesund.
»Jetzt komm schon, Janlan.«
Keira sah mich ungeduldig an. Na das war ganz nach ihren Wünschen. Der geheimnisvolle Fremde war ein gut aussehender junger Mann, der ihr nicht abgeneigt war.
Mürrisch zog ich mir die immer noch klamme Jacke wieder an und zog die Kapuze über den Kopf. Das würde nicht lange helfen. Ryan spielte den Gentleman und machte eine Armbewegung, die Keira anbot vorauszugehen. Sie lächelte und ich dachte zu sehen, wie das Rot ihrer Wangen etwas mehr an Farbe gewann. Ryan führte uns durch unzählige kleine Gassen und Weggabelungen. Ich hatte längst jede Orientierung verloren. Während wir durch den Regen eilten, sagte keiner von uns ein Wort. Ich bezweifelte, dass wir einander hätten verstehen können. Ich war mir sicher, dass dies gewiss nicht der direkte Weg war, zu was auch immer Ryan uns führte. Sein verschlungener Weg konnte nur dazu dienen, etwaige Verfolger abzuhängen oder genauso zu verwirren wie mich. Ich wusste allerdings im Gegenteil zu ihm, dass wir nicht verfolgt wurden. Außer unseren drei Seelenenergien war keine weitere auf den Straßen. Sie tummelten sich alle in ihren warmen und vor allem trockenen Häusern. Verblüfft stellte ich fest, dass Ryan uns in die Altstadt geführt hatte. Ich sah mich nach einem vertrauten Haus um, fand aber keines. Keira und ich waren gestern wohl nicht bis hierher durchgedrungen. Ryan blieb vor dem – wie es aussah – ältesten Haus stehen.
Der Putz bröckelte an vielen Stellen ab und die Fenster wurden nur noch von morschen Holzbrettern abgedeckt. In diesem Haus wohnte ganz eindeutig niemand mehr. Es schien der perfekte Drehort für einen Horrorfilm zu sein. An den Seiten des Hauses lagen heruntergefallene Dachziegel und überall lehnten Holzbretter. Ryan führte uns um das Haus herum, bis wir an dessen Hinterseite ankamen. Dort, wo vielleicht mal eine Tür zum Garten gewesen war, stand jetzt ein mannshohes Brett. Ein Sprayer hatte ein Zeichen darauf gesprüht. Was es darstellen sollte, konnte ich nicht erkennen. Ich hatte ohnehin keinen Blick dafür. Neben dem Holzbrett sah ich etwas, das ich erkannte.
»Janlan, was…«
Ich hob die Hand, woraufhin Keira verstummte. Auch Ryan sagte kein Wort, sondern ließ mich gewähren. Ich trat an die Hauswand heran. Auf den ersten Blick sah es aus, als wäre auch hier der Putz unwillkürlich von der Wand abgeblättert, doch dann erkannte ich ein bewusstes Muster. Nur deshalb war ich darauf aufmerksam geworden. Die Zufälligkeit wie der Putz abgebröckelt war, war einfach zu perfekt. Ich erkannte den brüllenden Löwen. Er war größer als die Zeichnungen auf meiner Karte. Dieser Umstand
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