Das Amulett der Zauberin: Roman (German Edition)
Die Anweisungen sind immer so verdammt vage. Nicht wie die zehn Gebote. Wenn etwas in Stein gemeißelt ist, dann weiß man genau, was man tun soll.«
»Was der Grund dafür ist, dass Prophezeiungen nicht in Stein gemeißelt werden. Sie sind keine Gebote«, argumentierte Gran. »Sie sind … Möglichkeiten. Die man ergreifen oder vorüberziehen lassen kann. Es ist immer eine Wahl … oder Hunderte von kleinen Entscheidungen, die wir auf dem Weg treffen, fast ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden. Der Talisman wurde von einer Zauberin verloren, die sich entschieden hatte, ihre Macht nicht einzufordern. Maura hatte nicht die Geduld für Magie. Sie betrachtete sie lediglich als Belastung und weigerte sich, darin unterrichtet zu werden. Sie war sehr jung. Vielleicht hätte sie über die Jahre ihre Meinung geändert, aber diese Chance war ihr nicht mehr vergönnt.
Die Entscheidungen, die sie getroffen hat, haben für unsere Familie zu einem verheerenden Verlust geführt, dem Verlust von Liebe und Magie.« In Grans Worten schwangen heftige Gefühle mit. »Liebe und Magie werden uns nur zurückgegeben, wenn die eine Zauberin, der es bestimmt ist, die volle Macht des Talismans zu beanspruchen, es aus ihrem eigenen freien Willen tut.«
»Und du denkst wirklich, dass ich diejenige bin, die das tun kann?«, fragte Eve sie.
»Ich denke es nicht«, sagte ihre Großmutter. »Ich glaube es. Schon immer.« Sie wartete ein paar Sekunden, um ihren Worten mehr Wirkung zu verleihen, bevor sie hinzufügte: »Aber was ich glaube, ist nicht wichtig. Die Zukunft hängt von dem ab, was du glaubst. Und davon, wie du dich entscheidest, damit umzugehen.«
Eve rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. »Ich weiß nicht, was ich glaube. Ich weiß nicht, was ich … von all dem halten soll.« Sie deutete auf die Schriftrolle.
»Deswegen musst du sie lesen. Die Prophezeiung zu lesen wird dir dabei helfen, zu verstehen, was möglich ist. Dann musst du selbst entscheiden, ob das der Weg ist, den du einschlagen willst.« Gran fing an, ihre Sachen zurück in die Kiste zu räumen, wobei sie die Briefe ein wenig länger in der Hand hielt als alles andere.
Eve fühlte plötzlich eine überwältigende Zuneigung zu ihrer Großmutter, während sie sie beobachtete. »Liest du sie je, Gran?«
»Die Briefe? Nicht mehr so oft wie früher. Es ist nicht mehr nötig. Ich kenne fast jedes Wort auswendig.« Sie drückte das Bündel an ihre Brust und lächelte sanft. »Dein Großvater war für einen jungen Mann recht romantisch.«
»Wie alt war er?«
»Kaum zwanzig. Ich war achtzehn, als er losgezogen ist. Offiziell war Irland während des Kriegs neutral. Der Krieg wurde sogar als ›der Notfall‹ bezeichnet, als wäre er weniger schlimm, wenn man ihn nicht als Krieg bezeichnete. Aber dein Großvater wollte nichts davon hören. Er hat sich bei einem englischen Regiment gemeldet.«
Eve wandte den Kopf, um das vergilbte Bild anzusehen, das auf dem Nachttisch stand. Darauf zu sehen war der Großvater, den sie nie getroffen hatte, ein junger Mann mit lockigem Haar und glücklichen Augen, ein Mann, der offensichtlich stolz darauf war, eine Uniform zu tragen. »Ich nehme an, einem jungen Mann kann der Krieg wie ein großes Abenteuer vorkommen.«
»Das war nicht der Grund, warum er gegangen ist. Er hat mir immer gesagt, dass er es tut, weil er gebraucht wird und er sich nicht von etwas abwenden kann, von dem er tief im Herzen überzeugt ist. Leute litten und starben, und er war jung und gesund und mutig. Liam Conor glaubte, wenn man Gutes tun konnte, dass man es auch tun sollte.«
»Geschickt, Gran«, sagte Eve mit einem nachdenklichen Lächeln. »Sehr geschickt. Damit hast du mich schön eingefangen. Und ich verstehe, was du mir sagen willst.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, antwortete Gran und schloss mit einer befriedigten Miene die Kiste. »Ich lasse dich jetzt in Ruhe lesen.«
Und Eve las. Sie las von verlorener und gewonnener Macht und von einer Zauberin, die sich selbst verloren hatte und damit auch der Kunst verloren war. Und während sie las, schien die Zeit rückwärts zu laufen. Die verschnörkelte Schrift und die altmodische poetische Sprache erinnerten sie daran, wie sie zum ersten Mal vom Winterrosenzauber gelesen hatte.
Von der Göttin geschenkte Macht, von Dunkelheit gestohlen,
kann nur die Zauberin wieder sich holen,
die mit dem Zeichen uralter Gunst geboren,
die durch Tragödie eigenen Handelns
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