Das Amulett der Zauberin: Roman (German Edition)
sich und Eve aufs Bett. Eve beobachtete, wie Gran zwei Fingerspitzen auf das kupferne Schlüsselloch legte und ein paar Worte in einer Sprache murmelte, die ihr wie Honig von der Zunge floss. Sie hörte ein metallisches Klicken, als das Schloss sich öffnete, als hätte Gran den Schlüssel benutzt, der schon seit Jahren verloren war.
Ihre Großmutter öffnete den Deckel und hob einen Zwischenboden heraus, dann sammelte sie vorsichtig die darunter liegenden Gegenstände ein und legte sie ebenfalls beiseite. Jeder davon war Eve vertraut und beschwor glückliche Kindheitserinnerungen an die wenigen Male herauf, bei denen ihr erlaubt worden war, einen Blick in Grans Schatzkiste zu werfen. Ein paar Kämme, die Grans Mutter gehört hatte, mit silberner Filigranverzierung, die so fein war wie Spitze. Ein Medaillon mit einem Babyfoto und einer Locke von Eves eigener Mutter. Und ein kleiner Stapel Briefe, die von einem verblassten roten Band zusammengehalten wurden. Die Briefe stammten von ihrem Großvater, nach Hause geschickt aus Frankreich, wo er gekämpft hatte und gefallen war. Bevor sie die Briefe zur Seite legte, küsste Gran sie kurz, wie Eve es schon viele Male gesehen hatte.
Als die Kiste leer zu sein schien, tat ihre Großmutter etwas, was Eve noch nie vorher beobachtet hatte: Sie ließ ihre Fingerspitzen über den inneren Rand gleiten, die Lippen schmal vor Konzentration. Neugierig lehnte Eve sich vor. Genau in diesem Moment fand Gran ein dünnes schwarzes Band und zog daran, um ein Fach zu öffnen, von dem Eve nichts gewusst hatte.
»Ein doppelter Boden!«, rief sie. »Wie clever. Aber hättest du nicht einfach einen Schutzzauber benutzen können, um das zu verbergen, was du dort hineingelegt hast?«
»Ich habe auch Schutzzauber benutzt. Ich wollte es beschützen, aber ich wollte auch, dass du es finden kannst, falls dieser Augenblick nie gekommen und ich nicht mehr da gewesen wäre, um es dir selbst zu geben.« Gran streckte ihr eine vergilbte Pergamentrolle entgegen, die mit schwarzem Band umwickelt war.
»Die Prophezeiung?«, fragte Eve, als sie die Rolle nahm. Aufregung siegte über ihre Angst.
»Ja … vorsichtig. Bitte vorsichtig«, ermahnte sie Eve, als die begann, das Pergament aufzurollen. »Diese Schriftrolle ist mindestens vierhundert Jahre alt und sehr zerbrechlich.«
Jetzt, wo sie sie tatsächlich in der Hand hielt, war Eve gespannt zu lesen, was darin stand, und trotzdem hielt sie kurz inne, um ihrer Großmutter einen skeptischen Blick zuzuwerfen. »Vierhundert Jahre? Wirklich? Ich hätte gedacht, dass so altes Papier zerfallen sein müsste … praktisch schon Staub. Eigentlich dürfte es sie gar nicht mehr geben, ohne regelmäßige Restauration.«
Grans Achselzucken war philosophisch. »Sie ist, was sie sein soll. Die Prophezeiung selbst ist viel älter als dieses Pergament, und in ihrer Gesamtheit viel weitreichender. Das Original wird in den Archiven des Hohen Rates aufbewahrt. Was du in Händen hältst, ist eine Übersetzung der Passagen, die sich auf unsere Familie beziehen. Ich hoffe, dass sie alle Fragen beantwortet, die du noch stellen wirst.«
»Dräng mich nicht«, murmelte Eve. »Ich brauche ein wenig Zeit.«
»Würde es dein Interesse wecken, wenn ich dir erzähle, dass die Prophezeiung den Verlust des Talismans und seiner Magie und auch die lange Pechsträhne danach vorhergesagt hat? Und«, sagte sie und hielt kurz inne. Um die Spannung zu steigern, da war sich Eve sicher. »Sie sagt, dass es nur einen Weg gibt, die T’airna-Magie wiederherzustellen, und nur eine, der es gelingen kann.«
»Der verlorenen Zauberin«, sagte Eve und ließ ihre Finger über das Pergament gleiten.
Gran nickte. »Ja. Es heißt, sie wird sowohl gesegnet als auch gezeichnet sein, und du bist beides, Eve.«
»Gesegnet?«, fragte Eve und bemühte sich, nicht allzu zynisch zu klingen.
Wieder nickte ihre Großmutter bestimmt. »Du bist mit einer angeborenen Magie von einer Stärke gesegnet, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ich habe sie schon in dir erkannt, als du noch sehr klein warst. Und du bist gezeichnet mit dem Mal der Göttin. Es kann kein Zufall sein, dass dein Mal und die Markierung des Talismans identisch sind.«
»Steht zufällig auch da drin, wie genau diese gesegnete und gezeichnete Frau es tun wird?«, erkundigte sich Eve.
»In der Tat«, versicherte ihr Gran. »Sie tut es, indem sie sich entscheidet, es zu tun.«
Eve verdrehte die Augen. »Das ist das Typische an Prophezeiungen.
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