Das Amulett der Zauberin: Roman (German Edition)
zugegeben, dass sie seine Schränke durchsucht hatte. Sie wollte nicht, dass er auch noch dachte, sie würde lauschen.
Im Wohnzimmer blieb sie stehen und starrte auf die Stelle, an der das Ritual stattgefunden hatte. Der Teppich lag wieder dort, aber vor ihrem inneren Auge sah sie den gelben Kreidekreis und erinnerte sich daran, was in ihm geschehen war. Und was vielleicht passiert wäre, wenn Hazards Plan nicht von Pavane gestört worden wäre. Ein kalter, harter Knoten bildete sich in ihrer Brust. Wenn sie den Gedanken darüber zuließ, würde sie zerbrechen, also stoppte sie sich.
Sie hatte diesen Weg nicht gewählt – zumindest nicht bewusst –, aber irgendwie war es dazu gekommen. Sie war daran gewöhnt, ihr Leben vorausplanen zu können und genau zu wissen, wohin sie ging und wie sie dort hinkam. Aber diesmal nicht. Die Straße vor ihr war von undeutlichen Schatten bevölkert, und wie die Schurken in alten Videospielen standen sie nie still. Ständig wechselten sie den Ort, enthüllten neue Wahrheiten und warfen neue Fragen auf. Diesen Weg musste sie bewältigen, einen vorsichtigen Schritt nach dem nächsten. Und im Moment trug das nächste Stück des Wegs Pavanes Namen. Er konnte jede Sekunde wie aus dem Nichts erscheinen, und wenn er es tat, musste sie bereit sein, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen und hervorragend zu funktionieren.
Den Mann zu retten, den sie liebte, würde bis später warten müssen.
Den Mann, den sie liebte?
Wann war das passiert? Gestern? In der letzten Nacht? Während des Abendessens bei Settimio?
Sie versuchte nicht einmal, sich einzureden, dass sie sich nicht Hals über Kopf verliebt hatte oder dass sie sich nicht sicher war, was sie empfand. Sie war sich sicher. Manche Dinge weiß eine Frau im Herzen, lange bevor ihr Kopf bereit ist, den Sprung zu wagen. Nach allem, was sie gehört oder in Filmen gesehen hatte, wusste sie, dass das langsame Wachsen der Liebe wunderschön sein kann. Aber sie und Hazard hatten diese Zeit einfach nicht.
Manchmal, wenn Gefahr droht und die Welt aus ihrer Bahn geworfen wird, muss selbst die vernünftigste und vorsichtigste Frau der Welt ihrem Kopf erklären, dass er das Herz ans Steuer lassen muss. Und genau das tat sie jetzt. Sie würde sich von ihrem Herzen leiten lassen. Das war für sie absolutes Neuland, und wahrscheinlich sollte ihr ein wenig ängstlich zumute sein. Aber so war es nicht. Sie fühlte sich stark. Sie war bereit für alles, was kommen mochte. Zumindest laut Hazard.
Sie konnte kaum erwarten zu sehen, was sie als Nächstes tun würde.
Das war ein trockener, selbstironischer Gedanke tief in ihrem Inneren, aber noch bevor sie ihn fertig gedacht hatte, fand sie sich schon am Fuß der Treppe wieder, den Blick nach oben gerichtet. Von hier aus konnte sie das Turmzimmer nicht sehen, aber so seltsam es auch war, sie konnte es fühlen.
War der Turm auch völlig verändert? Es war schwer vorstellbar. Es gab keine Räume, die man verbinden, keine Wände, die eingerissen werden konnten. Die einzigen Wände waren in ihr, und sie hatte sie selbst errichtet.
Ohne sich Zeit zum Nachdenken zu geben, damit sie den Mut nicht verlieren konnte, stieg sie die Treppe hinauf. Erst in den ersten Stock und dann die schmale, gewundene Treppe nach ganz oben. Sie bewegte sich langsam und musste feststellen, dass ihre Füße anscheinend ihr eigenes Gedächtnis hatten. Mit jeder Stufe blitzten Bilder von einem Pfad im Schnee, von weißen Rosenblättern und Chloes pinkem Frottee-Nachthemd in ihrem Kopf auf. Sie versuchte nicht, eines der Bilder länger zu halten, um es sich genauer anzusehen, aber sie widersetzte sich ihnen auch nicht, weder den Bildern noch den Erinnerungen, die daran hingen. Sie ließ sie kommen und gehen, wie es ihnen gefiel. Ihr Puls raste und ihr Herz klopfte, als wäre sie schon hundert Stufen gestiegen, aber sie konzentrierte sich darauf, langsam und gleichmäßig zu atmen, als sie die oberste Stufe erreichte und zum ersten Mal seit dem Feuer über die Schwelle des Turmzimmers trat.
Sie machte bewusst kein Licht. Die Sonne ging schon unter, aber da der Raum an allen Seiten Fenster hatte, konnte sie immer noch genug sehen. Es war nicht so, wie sie sich erinnerte. Das überraschte sie nicht. Was sie überraschte, war, wie sehr sich der Raum vom Rest des Hauses unterschied. Hier gab es im Übermaß die Farbe und die Persönlichkeit, die im restlichen Haus fehlte.
Ein tiefblauer Teppich mit roten, goldenen und türkisfarbenen
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