Das Amulett von Gan (German Edition)
den Bergwäldern, von denen sie bisher leider nur wenig gesehen hatte. Aber was sie hier nun sahen, war anders als all das. Alles war viel größer und die Farben intensiver. Die Natur schien vor Kraft zu strotzen.
Am meisten beeindruckte Joe die unglaubliche Vielfalt an Pflanzen. Er wusste, wie hart die Arbeit auf dem Feld war und wie viel Mühe es seine Familie kostete, dem trockenen Boden wenigstens eine kleine Maisernte abzuringen. In Gan aber schien alles fast von alleine zu wachsen. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen.
Finn, Chika und Pendo waren nicht minder erstaunt über das, was sie da sahen. Immer wieder sagten sie: »Seht doch nur, wie schön«, oder: »Schaut doch mal, so eine große Himbeere habe ich noch nie gesehen!«. Immerzu entdeckten sie Neues. Das Laufen machte allen Freude, zumal sie mit ihrer leichten Reisekleidung keinen unnötigen Ballast mit sich herumtragen mussten.
Fast hatten sie den Anlass ihrer Reise vergessen. Da entdeckten sie am Ende einer Lichtung ein kleines, aus roten Ziegelsteinen gebautes Haus. Mit seinem reetgedeckten Dach und dem hübschen Vorgarten, der mit Blumen und Sträuchern angelegt war, die dicke Früchte trugen, machte es einen friedlichen Eindruck. Eingefasst war der Garten mit einem niedrigen weißen Zaun und einem Holztor, um das sich Rosen rankten.
Finn wollte gerade seine Gefährten auffordern, vorsichtshalber ihre Kapuzen überzuziehen, als sie unvermittelt jemand ansprach:
»Was macht ihr denn in diesen gefährlichen Zeiten alleine draußen im Wald? Wisst ihr nicht, dass dunkle Mächte in unser Land eingefallen sind? Kinder sollten da nicht alleine rumlaufen.«
Finn, Chika, Joe und Pendo wirbelten erschrocken herum. Aus dem Wald hinter ihnen trat ein großer Mann mit blonden Haaren und einem kurz geschnittenen Bart. Er trug einen grünen Umhang, unter dem braune Lederstiefel herausschauten.
»Ja, ähm, doch«, stammelten die vier. Was sollten sie jetzt bloß sagen? Wer konnte wissen, ob dieser Mann überhaupt vertrauenswürdig war?
»Wohin seid ihr denn unterwegs? Ich habe euch hier noch nie gesehen.«
»Wir …«, begann Pendo zögernd, »ähm, wir sind Chika, Finn, Pendo und Joe, und wir sind unterwegs in Richtung der aufgehenden Sonne.«
»Aha!«, sagte der Mann und sein Blick wurde noch besorgter. »Dahin sind in den letzten Tagen viele Menschen gelaufen – auch ich. Wir wollten so schnell wie möglich zur Quelle der vier Lebensströme und sie bitten, ihr Wasser doch wieder fließen zu lassen. Wir haben die Quelle angefleht, unser Land wieder zu beschützen, aber vergeblich. Das Wasser fließt nicht mehr. Ich muss gestehen, auch ich war als Kind zum letzten Mal dort. Meine Großmutter hatte mich mitgenommen. Aber ich nahm ihren Rat, regelmäßig vom Wasser der Lebensströme zu trinken, nicht ernst. Oh, wie ich mich getäuscht habe! Jetzt, wo die Quelle versiegt ist und böse Mächte in unser Land eindringen, weiß ich erst, wie recht sie hatte. Ohne das Wasser der Lebensströme ist unser Land verloren. Es ist schrecklich.«
Der Mann hielt erschrocken inne. »Aber wie unhöflich ich bin. Ich habe mich nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Alon, ichbin der Hüter dieses Waldes. Ihr seid herzlich eingeladen, in meinem Haus eine kurze Rast zu machen und euch etwas zu stärken. Ich kann uns einen leckeren Kakao kochen und habe auch etwas Kuchen im Schrank. Mögt ihr?« Alon zeigte auf das kleine Haus, dass sie entdeckt hatten, kurz bevor er sie angesprochen hatte.
Die vier schauten einander fragend an. Konnten sie diesem Mann vertrauen? Seine Geschichte machte zwar einen glaubhaften Eindruck, aber bisher hatten sie keinerlei Erfahrung mit den Bewohnern Gans gemacht. Pendo nickte den anderen zu. Sie spürte genau, dass sie diesem Mann vertrauen konnten. So stimmten alle zu und Joe sagte: »Gerne nehmen wir Ihre Einladung an. Vielen Dank.«
Als sie das Haus betraten, fühlten sie sich sofort wohl. Es war schlicht eingerichtet, aber sehr gemütlich. Alon bat sie, sich an den runden Esstisch zu setzen, und kam kurze Zeit später mit Geschirr, etwas Kuchen und einer Kanne mit duftendem Kakao zurück. Die vier Wanderer waren nun schon einige Stunden gelaufen und deshalb hungrig und durstig. So ließen sie es sich schmecken und beteuerten zwischendurch mehrmals, wie lecker alles sei. Ihr Gastgeber freute sich über das Lob. Dann aber schaute er sie ernst an:
»Wenn ich euch vor nur einer Woche getroffen hätte und ihr so leichtfertig der
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