Das Amulett
anderen Häuptlinge könnten ihn herausfordern. Oder der Bund der Orkstämme zerbricht. Es könnte einen regelrechten Bürgerkrieg geben.«
»Können wir ihm nicht helfen?«, fragte Calissa.
»Ul‘goth ist noch immer von seinen Verletzungen geschwächt«, ergriff Tharador das Wort. »Es ist wichtig, dass er kraftvoll und sicher auftritt. Orks unterwerfen sich nur dem Stärksten, nicht den besten Rednern.«
»Dann sollten wir schnellstmöglich mit Gordan sprechen«, schlug Calissa vor. »Er ist ein mächtiger Magier – vielleicht weiß er Rat.«
»Gordan wird Ul‘goth nicht helfen können«, sagte Khalldeg. »Die übrigen Häuptlinge lassen niemanden zu ihm. Sie wissen, dass er im Moment verwundbar ist, und wollen es für ihre eigenen Zwecke nutzen. Bald wird er geschwächt vor sie treten, und sie werden sich wie hungrige Wölfe auf ihn stürzen.«
Unbemerkt war Gordan zu ihnen gestoßen und begrüßte sie nun mit einem kräftigen Räuspern. »Khalldeg sagt leider die Wahrheit. Ich wollte Ul‘goth heute Morgen aufsuchen, aber dieser Schamane, Grunduul, hat mich nicht bis zu ihm gelassen. Ich befürchte fast, dass er vielmehr sein eigenes Wohl im Sinn hat als das des Königs. Er teilt Ul‘goths Vision von einem dauerhaften Frieden mit den Menschen wohl leider nicht.«
»Was können wir dann noch tun?«, fragte Tharador ratlos.
»Wir müssen herausfinden, wie schlimm es tatsächlich um Ul‘goth bestellt ist, bevor er in wenigen Tagen den übrigen Häuptlingen vorgeführt wird. Grunduul verkündet mir ein wenig zu energisch, dass der König im Sterben liegt«, überlegte Gordan weiter. »Es wird Zeit, dass wir uns selbst ein Bild davon machen.«
»Leichter gesagt, als getan, wenn man uns nicht zu ihm lässt«, gab Khalldeg zu bedenken.
Calissa trat seit Beginn des Gesprächs über Ul‘goth nervös von einem Bein aufs andere. Ich wollte mich nie wieder heimlich durch die Schatten bewegen , dachte sie unentwegt. Als sie erkannte, dass ihr keine andere Wahl blieb, seufzte sie leise und trat einen Schritt vor. »Ich werde gehen«, bot sie sich an. »Ich kann mich heute Nacht in Ul‘goths Schlafgemach schleichen.«
»Dann sollten wir schon bald Genaueres über seinen Zustand wissen«, stimmte Gordan zu.
»In die Kaserne einzubrechen, ist kein leichtes Unterfangen«, warf Tharador ein. »Das Gebäude wimmelt nur so von Orks. Und sollten sie dich nachts im Zimmer ihres mit dem Tod ringenden Königs erwischen ...« Er ließ den Satz unvollendet zwischen ihnen schweben, doch Calissa nickte entschlossen.
Als die Sonne schließlich vollends hinter dem Horizont verschwunden war, machte Calissa sich auf den Weg vom Arkanum zur Kaserne. Den verstreuten Orkwächtern aus dem Weg zu gehen, war ihr ein Leichtes. Niemand erwartete große Schwierigkeiten, denn die Orks lebten in der Regel – im Gegensatz zu den Menschen – sehr friedlich untereinander. Jegliche Missgunst und Streitigkeit wurde in einem rituellen Zweikampf beigelegt. Heimlichkeit und Diebstahl schienen die Orks nicht zu kennen. Man achtete den Besitz des anderen, und die eigene Ehrenhaftigkeit schien allem anderen übergeordnet.
So erreichte sie nach kurzer Zeit die Außenwand der Kaserne und umrundete das Steingebäude in wenigen Augenblicken, bis sie unter Ul‘goths Fenster ankam. Bis zur Kante des schmalen Simses waren es höchstens fünfzehn Fuß. Eine lächerlich geringe Höhe an einer tadellos gearbeiteten Mauer. Ihre weißen Zähne blitzten in einem zufriedenen Grinsen auf, dann legte sie ihren Rucksack ab und förderte mit sicheren Handgriffen alles daraus ans Mondlicht, was sie benötigte. Ihr zweites Paar Handschuhe und den Tiegel mit dem Harz der Roteiche.
Vorsichtig bestrich sie die Innenseiten der Handschuhe mit dem klebrigen Saft des Baumes. Als sie gerade die beiden Handflächen fertig bestrichen und die Handschuhe in Schulterhöhe an die Wand geklebt hatte, hörte sie leise Orkstimmen, die sich näherten. Ein geübter Blick ließ sie die beste Deckung erspähen, eine Seitengasse ihr gegenüber. Sie packte ihren Rucksack, und zwei rasche Schritte brachten sie in die schützende Dunkelheit, wo sie sich weit zwischen die beiden Fachwerkhäuser zurückzog. Hoffentlich entdecken sie die Handschuhe nicht , nagte es an ihr.
Die beiden Orks schlenderten müde an ihr vorbei und schienen neben ihrem Gespräch nichts wahrzunehmen. Calissa atmete erleichtert auf und lugte um die Ecke. Schon waren die beiden Wächter abgebogen, und die Straße
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