Das Anastasia-Syndrom
fachkundiger Physiognomiker zu sein und aus dem Gesichtsausdruck eines Menschen dessen Wesen deuten zu können. »Sire, ich bin hier, um meine Schuld einzugestehen«, sagte sie. »Verfahrt mit mir ganz nach Eurem Belieben, aber verschont einen kranken, geistesschwachen alten Mann.«
»Sir John Carew ist schlau genug, sich verrückt zu stellen, Si-re«, bemerkte Hallett. »Und wenn es ihm dank Eurer huldvollen Begnadigung gestattet wird, nach Edge Barton zurückzukehren, wird er bald auf wundersame Weise genesen. Dann werden er und seine Gemahlin weiterhin mit den gefährlichen Revolutionären unter ihren Standesgenossen die Köpfe zusammenstecken.
Diese Schurken planen für Eure Majestät dasselbe Schicksal, das Euer Vater, unser verblichener König, erlitten hat.«
Margaret starrte Hallett entgeistert an. Ihre Vettern hatten ihr erzählt, hinter der lächelnden Fassade werde Karl II. von der Vorahnung verfolgt, ihm sei es bestimmt, das Schicksal seines Vaters zu erleiden.
»Lügner!« schrie sie Hallett entgegen. »Lügner!« Sie wollte auf den König zueilen. »Euer Majestät, mein Gatte, verschont meinen Gatten.«
Simon Hallett warf sich über sie, riß sie zu Boden, lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihr. Sie sah einen Dolch in seiner Hand blitzen. Sie nahm an, er beabsichtige, sie damit zu erste-chen, daher versuchte sie, ihm die Waffe zu entwenden. Der Dolch brachte ihr an der Daumenwurzel eine tiefe Schnittwunde bei; dann zog er sie hoch und zwang sie dabei, den Griff mit den Fingern zu umschließen.
»Ihr wolltet den König ermorden!« brüllte Hallett. »Seht her, Sire, sie hat eine Waffe zur Audienz mitgebracht!«
Margaret wußte, daß jeder Protest zwecklos war. Blut strömte aus der Wunde, als man ihr die Hände fesselte und sie fort-schaffte. Hallett folgte ihr nach draußen. »Laßt mich mit Lady Margaret reden«, wandte er sich an die Wachen. »Tretet bitte etwas zurück.« Er raunte ihr zu: »In diesem Augenblick baumelt Sir John in Charing Cross am Strang, und man reißt ihm die Eingeweide heraus. Der König hat mich bereits zum Baronet ernannt. Zum Lohn dafür, daß ich ihn vor Eurer Wahnsinnstat beschützt und so sein Leben gerettet habe, werde ich Edge Barton erbitten und dann verliehen bekommen.«
Reza Patel hatte über das Wochenende mehrmals versucht, Judith telefonisch zu erreichen. Er hinterließ keine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. Sein Vorschlag, sie solle zu einer Blutdruckkontrolle in die Praxis kommen, um eine körperliche Beeinträchtigung durch das bei der Hypnose verabreichte Mittel sicherheitshalber auszuschließen, sollte ganz spontan klingen.
Am Montag war sie ebenfalls nicht zu Hause. Am Dienstag blieben er und Rebecca abends nach der Sprechstunde noch in der Praxis und sahen sich abermals die Aufzeichnung von Judiths Hypnose an.
»Psychisch ist da irgend etwas vorgegangen«, erläuterte Patel.
»Wir wissen das. Schauen Sie sich ihr Gesicht an – die Wut, der Haß darin. Was für ein Geschöpf hat Judith zurückgebracht?
Und von woher? Wenn meine Theorie richtig ist, hat der Geist, das innerste Wesen der Großfürstin Anastasia sich Anna Andersons bemächtigt, sie buchstäblich überwältigt. Wird das auch Judith Chase widerfahren?«
»Judith Chase ist eine sehr starke Frau«, erinnerte ihn Rebecca. »Deshalb haben Sie ja auch eine so große Dosis gebraucht, um sie in die Kindheit zurückzuversetzen. Sie wissen doch, daß Sie nicht sicher sein können, ob all das, was ihr widerfahren sein mag, nicht sein Ende fand, als Sie sie aufweckten. Sie hatte keinerlei Erinnerung daran. Ist es nicht sehr vermessen, daß Sie sich so gewiß sind, den Beweis für das Anastasia-Syndrom erbracht zu haben?«
»Ich wünsche bei Gott, daß ich mich irre, aber das ist nicht der Fall.«
»Können Sie Judith dann nicht abermals hypnotisieren, sie an den Punkt zurückführen, von dem sie jenen Wesenskern in sich aufgenommen und mitgebracht hat, und ihr befehlen, ihn dort wieder fallenzulassen?«
Patel schüttelte den Kopf. »Ich weiß ja nicht, wohin ich sie dabei schicken würde. Versuchen wir’s lieber noch mal mit dem Anrufen.«
Diesmal wurde das Telefon abgenommen. Er nickte Rebecca zu, um ihr zu bedeuten, daß Judith sich gemeldet hatte. Rebecca beugte sich herüber und stellte den Anrufbeantworter auf Konferenzschaltung.
»Ja?«
Rebecca und Patel sahen sich verwirrt an. Das war Judiths Stimme und doch wieder nicht. Das Timbre war anders, der Ton schroff und
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