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Das Anastasia-Syndrom

Titel: Das Anastasia-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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aber ich verspreche dir feierlich, keine obskuren Vettern aufzuspüren, die dich in Verlegenheit bringen könnten. Sie schlief ein mit dem glücklichen Gedanken, wie sehr sie das Leben als Lady Hallett genie-
    ßen würde.
    Den ganzen nächsten Vormittag über arbeitete Judith an ihrem Schreibtisch und registrierte zutiefst befriedigt den ständig wachsenden Stapel von Manuskriptseiten neben der Schreibmaschine. Sämtliche befreundeten Autoren redeten ihr zu, sich einen Computer anzuschaffen. Nach diesem Buch lege ich eine Pause ein, beschloß sie. Dann kann ich lernen, wie man einen Computer bedient. So schwierig dürfte die Umstellung nicht sein. Kenneth nannte mich immer »Mrs. Fix und fertig« – ich hätte Ingenieur werden sollen, sagte er. Aber wenn man dauernd im ganzen Land herumfährt und recherchiert, ist das wohl kaum die günstigste Voraussetzung, sich einen Schnelldrucker auszu-suchen, mußte sie zugeben. Sie dehnte und streckte sich ener-gisch.
    Wenn sie und Stephen verheiratet wären, würde sie das nach-holen. Er hatte starke Befürchtungen, es würde sie unglücklich machen, wenn sie die offiziellen Verpflichtungen, die sie mit ihm zusammen wahrnehmen mußte, so beanspruchten, daß ihr für ihre eigenen Vorhaben zu wenig Zeit blieb. Sie freute sich auf beide Aspekte dieses Lebens. Die zehn Ehejahre mit Kenneth waren wunderbar, aber zugleich überaus hektisch verlau-fen, weil sie beide ihre Karriere aufbauten. Die niederschmet-ternde Enttäuschung, daß sie kinderlos blieben. Dann die zehn Jahre als Witwe, in denen Arbeit Lebenszweck und Rettung zugleich gewesen war. Bin ich denn immer nur gerannt? fragte sie sich. Habe ich bis jetzt nie wirklich Ruhe gefunden?
    Die Sonne schien hell herein. Wie zauberhaft England selbst im Januar sein kann, dachte sie. Den ganzen Vormittag hatte sie über die Zeit der Restauration geschrieben, als – wie Samuel Pepys in seinem Tagebuch vermerkte – zahlreiche Freudenfeuer brannten und die Kirchenglocken in der Londoner City läuteten.
    Man trank auf den König, und in den Dörfern waren wieder Maibäume zu sehen. Anstelle der düsteren Grautöne der Puritaner traten leuchtende Farben, und der König fuhr mit der Königin durch den Hyde Park.
    Um 13 Uhr entschloß sich Judith zu einem Spaziergang durch die Umgebung von Whitehall Palace, um dort vielleicht etwas von der Erleichterung nachzuempfinden, mit der das Volk die Wiederherstellung der Monarchie ohne einen weiteren Bürgerkrieg aufgenommen hatte. Vor allem wollte sie das Standbild von Karl I. besichtigen. Die älteste und schönste Reiterstatue von London hatte man einem Schrotthändler überlassen mit der Auflage, sie während der Ära Cromwell zu vernichten. Aus Loyalität dem toten König gegenüber und in Erkenntnis des unschätzbaren Wertes, hatte der Schrotthändler den Befehl nicht ausgeführt, sondern das Standbild bis zur Rückkehr von Karl II.
    versteckt. Man ließ einen prachtvollen Sockel anfertigen und stellte das Denkmal schließlich am Trafalgar Square auf, mit direktem Blick über Whitehall zu dem Platz, auf dem Karl I.
    hingerichtet worden war.
    Sie hatte den ganzen Vormittag im Morgenrock an der Schreibmaschine gesessen. Jetzt duschte sie rasch, schminkte sich die Lippen und tuschte sich die Wimpern, rieb sich das Haar trocken, wobei sie feststellte, daß es zu lang wurde. Es sieht ja gar nicht übel aus, mußte sie zugeben, als sie sich kri-tisch im Spiegel musterte. Aber mit beinahe siebenundvierzig setze ich doch wohl besser auf die persönliche Note. Dann zog sie die Augenbrauen hoch. Du siehst nicht aus wie siebenundvierzig, Kindchen. Ihr Spiegelbild wirkte durchaus beruhigend. Dun-kelbraunes Haar mit leichtem Goldschimmer. Als Kind war sie blond. Der englische Teint. Ovales Gesicht, große blaue Augen.
    Sie fragte sich, ob sie wohl ihrer leiblichen Mutter ähnlich sah.
    Sie zog sich rasch an, dunkelgraue Hose, weißer Rollkragen-pullover, Stiefel. Meine Uniform, dachte sie. Wenn ich erst mit Stephen verheiratet bin, kann ich mich in diesem Aufzug nicht in die Stadt wagen. Sie schwankte, ob sie den Burberrry oder das neue Cape nehmen sollte. Das Cape. Sie ergriff die Schultertasche mit den Notizblocks und dem eventuell benötigten Nach-schlagematerial und machte sich auf den Weg.

    Als Judith am Trafalgar Square stand und die prachtvolle Statue des hingerichteten Königs betrachtete, fielen ihr ein paar Zeilen aus einem Gedicht von Lionel Johnson ein, die ihren Eindruck bestätigten.

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