Das Anastasia-Syndrom
hochfahrend.
»Miß Chase?« Judith Chase?«
»Judith ist nicht da.«
»Ihr Name«, flüsterte Rebecca.
»Darf ich fragen, wie Sie heißen, Madam? Sind Sie eine Freundin von Miss Chase?«
»Eine Freundin? Wohl kaum.« Die Verbindung wurde abgebrochen.
Patel barg den Kopf in den Händen. »Was habe ich getan, Rebecca? Judith ist in zwei Persönlichkeiten gespalten. Die neue weiß von Judiths Existenz. Sie ist bereits die dominierende.«
Stephen Hallett kam erst um Mitternacht nach Hause. Den ganzen Tag hatten Konferenzen stattgefunden. Gerüchte über den Entschluß der Premierministerin kursierten überall. Er hatte sich nicht geirrt mit der Annahme, daß es Einwände gegen seine Wahl zum Parteivorsitzenden geben würde. Hawkins, ein jüngerer Minister, war besonders lautstark. »Ohne Stephen Halletts klar Vorzüge und Verdienste zu leugnen, muß ich Sie alle warnend darauf hinweisen, daß man den alten Skandal wieder auf-leben lassen wird. Für die Presse wird das ein wahres Festessen.
Vergessen Sie nicht, Stephen ist haarscharf an einer Anklage vorbeigekommen.«
»Und wurde vollständig entlastet«, schoß Stephen zurück. Er hatte bei dem Wortgefecht gewonnen. Er würde auch bei der Wahl zum Parteivorsitzenden gewinnen. Aber diese Belastung, wegen des Verbrechens, das ein anderer begangen hat, unter dem Schatten eines Verdachts leben zu müssen, dachte er, als er sich müde auszog. Im Bett schaute er auf die Uhr. Mitternacht.
Viel zu spät für einen Anruf bei Judith. Er schloß die Augen.
Gott sei Dank, daß es sie gab – so, wie sie war. Gott sei Dank, daß sie verstand, weshalb er sie davon abhalten mußte, mit der Nachforschung nach ihren leiblichen Angehörigen zu beginnen.
Er wußte, wieviel er ihr damit abverlangt hatte. Beim Einschla-fen gelobte er sich, ihr das bis ans Ende ihrer Tage zu vergelten.
Das Himmelbett, seit nahezu dreihundert Jahren in Familien-besitz, knarrte, als er sich umdrehte. Stephen dachte an die Freuden, die ihn erwarteten, wenn er dieses Bett mit Judith teilte, an den Stolz, den er empfinden würde, wenn sie ihn als seine Ehefrau bei offiziellen Anlässen begleitete. Sein letzter und schönster Gedanke vor dem Eindämmern galt der Aussicht auf die Zeit, die sie ganz für sich in Edge Barton, seinem geliebten Refugium, genießen würden…
Um zehn Minuten nach Mitternacht blickte Judith auf, sah auf die Uhr und stellte bestürzt fest, daß die Suppe auf dem Tablett neben ihr kalt, daß sie selber völlig durchfroren war. Konzentration ist eine Sache, aber das hier ist heller Wahnsinn, dachte sie auf dem Weg zum Bett. Rasch streifte sie den Morgenrock ab, zog dankbar die Decke hoch, stopfte sie fest um den Hals. Diese verdammte Narbe an der Hand. Sie war wieder ziemlich rot, verblaßte indes zusehends. Ein Zeichen, daß du alt wirst, wenn all deine alten Narben wieder sichtbar werden, dachte sie, während sie hinüberlangte und das Licht ausknipste.
Sie schloß die Augen und begann, über Stephens Wunsch nach einer Hochzeit im April nachzusinnen. Das hieße, in zehn bis elf Wochen. Ich werde dieses verdammte Buch abschließen und dann einkaufen gehen, gelobte sie sich. Sie stellte fest, daß sie Stephens Vorschlag entzückte, sich in Edge Barton trauen zu lassen. In den vergangenen Wochen war die Erinnerung an die Kindheitsjahre mit ihren Adoptiveltern, an all die Jahre, die sie mit Kenneth in Washington gelebt hatte, immer weiter weggerückt. Es war, als habe ihr Leben an jenem Abend begonnen, an dem sie Stephen kennenlernte, als habe sie mit allen Fasern ihres Seins erkannt, daß England ihr Zuhause war. Sie war sechsundvierzig, Stephen vierundfünfzig. Er stammte aus einer langlebi-gen Familie. Wir könnten eine Chance für fünfundzwanzig gute gemeinsame Jahre haben, überlegte sie. Stephen. Das förmliche, mitunter großspurige Gehabe, mit dem sich ein einsamer, sogar
–, kaum glaublich –, ein recht unsicherer Mensch tarnte. Was er ihr über seinen Schwiegervater erzählt hatte, erklärte vieles…
Ich muß unbedingt meinen richtigen Namen erfahren, Stephen, dachte sie, als sie die Augen schloß. Wenn ich nicht alles erfunden habe, bin ich der Wahrheit vielleicht schon ganz nahe.
Falls es stimmt, daß ich bei einem V1-Angriff von meiner Mutter und Schwester getrennt wurde, werde ich den Rest der Geschichte auch noch irgendwie herauskriegen. Wahrscheinlich sind beide an jenem Tag ums Leben gekommen. Ich wünschte, ich könnte ihnen Blumen aufs Grab legen,
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