Das Anastasia-Syndrom
Die staatliche Figur mit schulterlangem Haar, ge-pflegtem Bart, hocherhobenem Haupt und königlicher Haltung wirkte tatsächlich ruhig, friedvoll. Der Hengst, auf dem er saß, schien mit den Hufen zu scharren und losgaloppieren zu wollen.
Und dennoch war Karl I. so verhaßt, dachte Judith. Wie wür-de die Welt heute aussehen, wenn es ihm gelungen wäre, das Parlament abzuschaffen? Hinter ihr näherte sich hörbar eine der unvermeidlichen Touristengruppen. Der Fremdenführer wartete, bis sich seine Herde im Halbkreis um ihn geschart hatte, um dann seinen Redeschwall vom Stapel zu lassen. »Was wir heute Trafalgar Square nennen, war ursprünglich Teil von Charing Cross«, erklärte er. »Passenderweise hat man dieses Denkmal genau an der Stelle errichtet, wo viele der Königsmörder hingerichtet wurden, eine feinsinnige Form, den toten König zu rä-
chen, finden Sie nicht? Die Hinrichtungen waren kein sanfter Tod. Die Verurteilten wurden gehenkt, ausgeweidet und gevierteilt, die Eingeweide schnitt man ihnen bei lebendigem Leibe heraus.«
John mußte auf diese Weise sterben… Ein kranker, verwirrter alter Mann…
»Am 30. Januar wurde der König enthauptet. Wenn Sie am nächsten Dienstag herkommen, können Sie den Kranz besichtigen, den die Royal Stuart Society am Sockel niederlegt. Das ist Tradition, seitdem man das Standbild hier aufgestellt hat.
Manchmal bringen Touristen und Schulkinder auch eigene Kränze oder Blumen. Wirklich rührend, so was.«
»Man müßte die Statue vernichten und die Dummköpfe, die Kränze niederlegen, bestrafen.«
Der Fremdenführer drehte sich zu Judith um. »Entschuldigen Sie, Madam, haben Sie mich etwas gefragt?«
Lady Margaret antwortete nicht. Sie nahm die Büchermappe in die linke Hand, holte mit der rechten die dunkle Brille hervor und zupfte an der Kapuze des Capes, so daß sie ihr Gesicht halb verdeckte.
Eine Zeitlang wanderte sie ziellos am Victoria Embankment die Themse entlang bis zum Big Ben und dem Parlamentsgebäu-de. Dort blieb sie stehen, starrte auf die Bauten, völlig blind gegen die Passanten, von denen sie manche neugierig musterten.
Ihre eigenen Worte klangen ihr in den Ohren. »Man müßte die Statue vernichten und die Dummköpfe, die Kränze niederlegen, bestrafen.« Aber wie, John, fragte sie sich. Wie soll ich das anfangen?
Unschlüssig ging sie die Bridge Street hinunter, überquerte die Parliament Street, bog rechts ab und fand sich in der Downing Street. Vor den Häusern am Ende der Straße waren Polizisten postiert. Eins davon war Downing Street 10. Der Amtssitz des Premierministers. Das zukünftige Heim von Stephen Hallett, Nachfahre von Simon Hallett. Margaret lächelte bitter. Es hat so lange gedauert, dachte sie. Und jetzt bin ich endlich hier, um John und mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Zuerst das Standbild, beschloß sie. Am 30. Januar würde sie zusammen mit anderen einen Kranz niederlegen. Doch an ihrem würde zwischen Blättern und Blüten Sprengstoff versteckt sein.
Sie erinnerte sich an das Schießpulver, das im Bürgerkrieg so viele Häuser zerstört hatte. Was für Sprengstoffe benutzte man heutzutage? Drei Blocks weiter passierte sie eine Baustelle, blieb stehen und sah zu, wie ein schweißtriefender, muskulöser junger Mann den Preßlufthammer schwang. Sie erschauerte.
Das Beil wird gehoben, saust hinunter. Der furchtbare Moment der Todesqual, der Kampf, weiter in diesem Dasein zu verweilen, zu warten, immer zu wissen, daß sie irgendwie zu-rückkehren würde. Die Erkenntnis, daß dieser Moment gekommen war, als Judith Chase herbeieilte, sie zu retten.
Der muskulöse Arbeiter hatte bemerkt, daß sie ihn beobachtete.
Ein durchdringender Pfiff ertönte. Sie lächelte verführerisch und winkte ihn heran. Sie verließ ihn mit dem Versprechen, sich um 18 Uhr mit ihm in seiner Wohnung zu treffen.
Dann begab sie sich in die Handbibliothek beim Leicester Square, wo ein höflicher Bibliothekar Bücher hinlegte und dabei flüsternd die Titel nannte: Die Pulververschwörung, Macht-kämpfe im 17. Jahrhundert, Die Geschichte der Sprengstoffe.
Als sie an jenem Abend in den schweißbedeckten Armen des Arbeiters lag, vertraute Margaret ihm zwischen Liebkosungen und Schmeicheleien an, sie müsse auf ihrem Landgut einen ver-rotteten Wagenschuppen beseitigen und habe einfach nicht das Geld, ein Abbruchunternehmen anzuheuern. Rob war doch so geschickt. Könnte er ihr vielleicht zu dem Zeug verhelfen, das sie dafür brauchte, und ihr
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