Das Anastasia-Syndrom
Ich erinnere mich, in einen Zug geklettert zu sein, dachte Judith. Ich trug nur einen leichten Pulli über dem Kleid, also muß es ziemlich warm gewesen sein. Angenommen, wir waren an jenem Tag unterwegs zur Waterloo Station. Mutter und Schwester wurden getötet. Ich wanderte in den Bahnhof und kletterte in den Zug. Am nächsten Morgen wurde ich in Salisbury aufgefunden. Das würde erklären, warum in London niemand, der mich vielleicht kannte, mein Bild gesehen hat.
Sie hatte gesagt, daß sie in Kent Court wohnte. Am 13. Juni 1944 war die Kensington High Street von einer Rakete getroffen worden, ein paar Tage danach die Kensington Church Street.
Kensington Court war eine nahegelegene Wohnstraße.
Die Peter Pan-Statue stand in Kensington Gardens, dem an die Gegend angrenzenden Park. Eine ihrer Halluzinationen hatte ihr ein Kleinkind gezeigt, das die Peter Pan-Statue anfaßte. An-hand von Stadtplänen und Recherchen ließ sich beweisen, daß sie den ersten Raketenangriff auf Kensington durchaus miterlebt haben konnte, wenn sie tatsächlich in der Gegend gewohnt hatte.
Judith spürte, daß sie zu zittern begann. Wieder passierte es –
der Tisch und die Regale verschwanden, der Raum wurde dunkel.
Das kleine Mädchen. Sie sah es durch den Schutt stolpern, hörte es schluchzen. Der Zug. Die offene Tür. Die aufgestapel-ten Pakete und Säcke.
Das Bild verschwand, doch diesmal war Judith klar, daß sie es positiv aufgenommen hatte. Ich schaffe tatsächlich Durchbrü-
che, dachte sie triumphierend. Es war eine Art Güterwagen.
Deswegen hat mich niemand gesehen. Ich hab mich hingelegt, auf irgendwas Hartes, und bin eingeschlafen. Die Daten passen.
Am folgenden Tag, dem 25. Juni 1944, stieß Amanda Chase, die beim Women’s Royal Navel Service und mit dem amerikanischen Marineoffizier Edward Chase verheiratet war, auf eine Zweijährige, die allein in Salisbury herumlief, das handgenähte, gesmogte Kleid und der wollene Pullover verschmiert und schmutzig. Das Kind, still und großäugig, brachte kein Wort heraus, war anfangs mißtrauisch, flüchtete sich dann in die liebevoll ausgestreckten Arme. Das Kind ohne Erkennungsmarke.
Das Kind, nach dem niemand suchte. Amanda und Edward Chase besuchten die Kleine, die sie Judith nannten, im Waisenhaus, machten mit ihr Ausflüge. Als sie zu sprechen begann, sagte sie Mami und Papi zu ihnen. Nachdem sämtliche Bemühungen, ihre leiblichen Angehörigen zu finden, erfolglos geblieben waren, erhielten Amanda und Edward Chase zwei Jahre später die Genehmigung, Judith zu adoptieren.
Judith erinnerte sich noch an den Tag, an dem die beiden sie im Waisenhaus abholten. »Darf ich wirklich bei euch wohnen?«
Mit strahlenden braunen Augen drückte Amanda sie an sich.
»Wir haben wirklich alles getan, was in unseren Kräften stand.
Aber jetzt gehörst du zu uns.«
Edward Chase, hochgewachsen, ruhig, liebevoll, wurde nun ihr Vater. »Du bist genau das Kind, das wir uns gewünscht haben. Das geht Adoptiveltern leicht über die Lippen – aber in unserem Fall ist es die volle Wahrheit.«
Sie waren so gut zu mir, dachte Judith, als sie mit neuer Hoffnung zu einer weiteren langen, mühsamen Suche ansetzte. Ich war so glücklich bei ihnen.
Edward Chase, Absolvent der Marineakademie von Annapo-lis, wurde nach dem Krieg Marineattaché im Weißen Haus. Judith hatte noch schwache Erinnerungen an das Ostereiersuchen auf dem Rasen des Weißen Hauses, an Präsident Trumans Frage, was sie denn später einmal werden wolle. Danach wurde Edward Chase Militärattaché in Japan, dann Botschafter in Griechenland und Schweden.
Wer hätte sich liebevollere Eltern wünschen können, fragte sich Judith, als sie den Band in die mit »M« markierte Regalrei-he zurückstellte. Sie waren in den Dreißigern, als sie sie adop-tierten, starben vor acht Jahren kurz hintereinander, hinterließen ihr beachtliches Vermögen ihrer »geliebten Tochter Judith«.
Und jetzt wurde ihr klar, daß sie den beiden Toten gegenüber keinerlei Schuldgefühle empfand, wenn sie versuchte, ihre Erzeuger ausfindig zu machen. Stunden verrannen. Marsh. March.
Mars. Merrit. In den Registern für Mai 1942 gab es keine Variante von Marrish oder sonst irgendeinen Namen mit dem Anfangsbuchstaben M, unter denen »Sarah« als erster oder zweiter Vorname verzeichnet war. Es wurde Zeit, unter »P« zu suchen in der Hoffnung, daß sie sich vielleicht bemüht hatte, »Parrish«
zu sagen, und das nicht richtig aussprechen konnte.
Sie
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