Das Anastasia-Syndrom
Judith. Möglicherweise ist der Name, den auszusprechen Sie sich bemühten, Parrish, nicht Marrish, oder ähnlich wie Parrish. Es hat Sie frustriert, daß Sie die ge-wünschte Information nicht schnell herausfinden können. Ich bitte Sie, geben Sie sich noch eine Chance. Achten Sie auf jedes Phänomen, eine Rückblende, ein Gefühl, Stunden verloren zu haben, einen Namen oder Gedanken, der Ihnen durch den Kopf geht und abwegig erscheint. Die Psyche versucht auf seltsame Weise, uns Anhaltspunkte zu liefern, wenn wir in das Unterbewußtsein eindringen.«
Das klang plausibel, doch Judith wiederholte ihre Frage.
»Dann gab es also nichts – weder bei der Behandlung noch bei dem Mittel, das Sie verwendet haben –, was jetzt irgendeine Reaktion bewirken könnte?«
Rebecca betrachtete die Fernbedienung, die sie noch in der Hand hielt. Reza Patel hob den Blick und sah Judith direkt in die Augen. »Absolut nichts.«
Nachdem Judith gegangen war, wandte sich Patel mit der verzweifelten Frage an Rebecca: »Was könnte ich ihr sonst sagen?«
»Die Wahrheit«, entgegnete Rebecca ruhig.
»Was würde es nützen, ihr Angst einzujagen?«
»Ich denke, Sie sollten sie warnen.«
Judith fuhr direkt nach Hause. Sie wollte es nicht riskieren, das Standesamt heute abermals aufzusuchen. Statt dessen ließ sie sich am Schreibtisch nieder, die aufgeschlagenen Notizbücher um sich ausgebreitet, die angejahrte Schreibmaschine, die mit ihrem Anschlag vertraut war, links von ihr auf dem Tischchen.
Sie arbeitete ununterbrochen bis zum frühen Nachmittag, in der tröstlichen Gewißheit, gut mit dem Buch voranzukommen. Um 14 Uhr machte sie sich geschwind ein Sandwich und eine Kanne Tee und brachte das Tablett zum Schreibtisch. Wenn sie bis in den Spätnachmittag weiterschrieb, könnte sie das nächste Kapitel vollenden. Sie war mit Stephen zu einem späten Abendessen verabredet.
Um 16 Uhr 30 begann sie mit dem Tippen ihrer Notizen über den Prozeß gegen die Königsmörder: Von manchen wurde die Ansicht vertreten, daß die Verfahren fair waren, daß man ihnen mehr Achtung und Rücksichtnahme erwies, als sie ihrem König gezollt hatten. Sie standen in den überfüllten Gerichtssaal, verhöhnt vom royalistischen Mob, sprachen unbeirrt von ihrer Ge-wissenspflicht, von ihrem festen Vertrauen, daß ihnen ihr Gott ein gnädiger Richter sein würde.«
Sie ließ die Finger von den Tasten sinken. Die Narbe an ihrer Hand begann zu pochen. Judith stieß den Stuhl zurück und sah auf die Uhr. Sie hatte doch eine Verabredung getroffen, oder?
Lady Margaret eilte zum Schrank und langte nach dem grü-
nen Cape. Du dachtest, du könntest es verstecken, Judith, höhnte sie. Sie knöpfte es am Hals zu, doch bevor sie sich die Kapuze über den Kopf zog, drehte sie das Haar zu einem Nackenknoten.
Sie hastete zurück, suchte und fand die dunkle Brille in Judiths großer Schultertasche und verließ die Wohnung.
Rob erwartete sie in seinem Zimmer. Auf dem Fensterbrett standen zwei Bierdosen. »Du bist spät dran«, begrüßte er sie.
Lady Margaret lächelte zurückhaltend. »Ungern. Es ist nicht immer so einfach, wegzukommen.«
»Wo wohnst du, Schätzchen?« fragte er, während er ihr das Cape aufknöpfte und sie in die Arme schloß.
»In Devon. Hast du das Versprochene mitgebracht?«
»Das hat doch noch viel Zeit.«
Eine Stunde später lag sie neben ihm auf dem zerwühlten Bett und hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, als Rob erklärte:
»Jetzt weißt du also, daß du dich mit dem Zeug ins Jenseits jagen kannst, darum merk dir ja gut, was ich dir eingetrichtert habe. Die Menge reicht glatt, um Buckingham Palace wegzupu-sten, aber ich muß schon zugeben, ich steh auf dich. Morgen abend um die gleiche Zeit?«
»Natürlich. Und ich hab versprochen, dich für deine Mühe zu bezahlen. Reichen zweihundert Pfund?«
Um zehn vor neun blickte Judith hoch. Meine Güte, dachte sie. Der Wagen kann jede Minute hier sein. Sie stürzte ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen, beschloß aber dann, zu duschen. Weil ich von dem langen Sitzen so verdammt steif bin, dachte sie. Sie konnte gar nicht verstehen, weshalb sie sich auch diesmal wieder irgendwie schmutzig vorkam.
Der 30. Januar war ein kalter, klarer Montag, strahlender Sonnenschein, trockene, belebende Luft. Lehrer behielten die Scharen von Schülern scharf im Auge, als sie sich hinter den beiden für die Kranzniederlegung am Denkmal von Karl I. Aus-ersehenen versammelten.
Weitere Blumenspenden türmten
Weitere Kostenlose Bücher