Das Anastasia-Syndrom
mußte.
Barnes teilte seiner Sekrektärin über die Gegensprechanlage mit, sie solle keine Gespräche durchstellen, zögerte, knurrte dann: »Bis auf die klaren Fälle.« Er lehnte sich im Sessel zu-rück, hielt die zusammengelegten Hände senkrecht vor sich, für seine Mitarbeiter ein Signal, daß er präzise Antworten auf seine Fragen erwartete.
»Sie haben also mit ihr gesprochen, Jack«, herrschte er Sloane an. »Was ist dabei herausgekommen?«
»Von einer Narbe kann keine Rede sein. Sie hat zwar ein ganz schwaches Mal an der rechten Hand, aber das sieht man nur auf Millimeterabstand. Sie war gestern vormittag im Tower, nicht am Nachmittag. Sie hat nicht mit dem Aufseher gesprochen, und falls er sie angeredet haben sollte, so hat sie’s nicht gehört.«
»Dann stimmt also ihre Darstellung mit dem Bericht des Aufsehers im großen ganzen überein. Aber was hat er mit dem
›Wieder da‹ gemeint?«
»Sir«, meldete sich Lynch zu Wort. »Scheint es sich nicht um den gleichen Tatbestand zu handeln, den Watkins beschreibt –
nicht dieselbe Frau, aber eine starke Ähnlichkeit?«
»Sieht ganz so aus. Wir sollten wohl Gott danken, daß wir nicht vor dem Problem stehen, die Zukünftige des nächsten Premierministers verhaften zu müssen«, erklärte Barnes. »Gent-lemen, was in dem offiziellen Bericht unbedingt enthalten sein muß, liegt auf der Hand – nämlich die Tatsache, daß der Aufseher Miß Chase gesehen und daß sie bestätigt hat, vormittags im Tower gewesen zu sein. Dagegen ist dieses ›wieder da‹ nicht hervorzuheben – ich wiederhole, in keiner Weise zu betonen.
Bei der gesuchten Frau handelt es sich eindeutig um eine Person, die Ähnlichkeit mit Miss Chase hat, die Watkins gegenüber behauptete, sie heiße Margaret Carew, doch ihr Name darf hier nicht auftauchen, das ist ein Gebot der Fairness, sowohl Sir Stephen als auch Miß Chase gegenüber.« Commander Sloane dachte an seine langjährige Freundschaft mit Stephen, an die Betroffenheit von Judith Chase, als sie über den Sprengstoffanschlag sprachen. Stirnrunzelnd und mit gedämpfter Stimme sagte er:
»Es gibt noch etwas, das Sie wissen müssen. Judith Chase besitzt ein teures dunkelgrünes Cape, das sie vor etwa einem Monat bei Harrods gekauft hat.«
Judith stand vor Kent House, 34 Kensington Court, und blickte an dem Wohnhaus im Tudorstil mit den zinnenartigen Brüstun-gen und dem reich verzierten Turm hoch. Hierher hatte man Mary Elizabeth Parrish und Sarah Courtney Parrish nach ihrer Geburt im Queen Mary Hospital gebracht. Sie klingelte beim Hausmeister und fragte sich mit Blick auf den verblichenen Marmorfußboden im Aufgang, ob die Phantasie ihr einen Streich spielte. Erinnerte sie sich wirklich, vor so langer Zeit über diesen Marmor zu dieser Treppe gelaufen zu sein?
Die Frau des Hausmeisters war Ende Fünfzig. Langer Pullover, lappiger Wollrock, blauweiße Kunstlederschuhe, freundliches Gesicht ohne jedes Make-up, umrahmt von gewelltem wei-
ßem Haar. Sie öffnete die Tür nur einen Spaltbreit. »Bedaure, wir haben nicht eine freie Wohnung zu vermieten«, sagte sie.
»Deswegen bin ich auch nicht gekommen.« Judith gab der Frau ihre Karte. Sie hatte sich bereits zurechtgelegt, was sie sagen wollte. »Meine Tante hatte eine sehr liebe Freundin, die im Krieg in diesem Haus wohnte. Ihr Name war Elaine Parrish. Sie hatte zwei kleine Töchter. Es ist ja sehr lange her, aber meine Tante hofft trotzdem, sie irgendwie ausfindig zu machen.«
»Tja, meine Liebe, ich fürchte, da gibt’s nicht mal mehr schriftliche Unterlagen. Das Haus ist ein paarmal verkauft worden, wozu sollte man da Aktenordner aufheben, über Mieter, die ausgezogen sind? Wie lange ist das her? Fünfundvierzig oder sogar fünfzig Jahre! Hoffnungslos.« Sie wollte die Tür zumachen.
»Einen Moment noch«, bat Judith. »Ich weiß ja, wieviel Sie zu tun haben, aber wenn ich Sie nun für den Zeitaufwand entschädige?«
Die Frau lächelte. »Ich bin Myrna Brown. Möchten Sie nicht reinkommen, meine Liebe? Es gibt tatsächlich ein paar alte Unterlagen im Keller.«
Zwei Stunden später verließ Judith den ihr zur Verfügung gestellten Raum und machte sich auf die Suche nach Myrna Brown. Beim Hantieren mit den verstaubten Aktenordnern waren ihr die Nägel abgebrochen, und sie sehnte sich nach Wasser und Seife. »Leider haben Sie rechts, Mrs. Brown. Ein ziemlich hoffnungsloser Fall. In den zwanzig Jahren, über die Sie Unterlagen hier haben, hat es ja sehr viel Wechsel
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