Das andere Kind
überhaupt niemandem, nicht einmal Leslie, von den seltsamen
Anrufen etwas erzählt hatte.
Weshalb sie, bei aller Beunruhigung, die ganze
Geschichte für sich behielt.
Die logische Frage, die jeder, der davon erfuhr,
sofort gestellt hätte, wäre gewesen: »Aber gibt es denn jemanden, der etwas gegen Sie hat?
Irgendjemanden, von dem Sie sich vorstellen könnten, dass er mit dieser Sache in einem
Zusammenhang steht?«
Wenn sie ehrlich war, hätte sie diese Frage
bejahen müssen. Was zwangsläufig weitere Fragen nach sich gezogen hätte. Und Erklärungen
ihrerseits. Und alles wäre wieder hochgekocht. Die ganze furchtbare Geschichte. All die Dinge,
die sie vergessen wollte. Die Dinge, von denen vor allem Leslie nichts erfahren
sollte.
Würde sie sich jedoch ahnungslos stellen,
beteuern, niemanden zu kennen, der etwas gegen sie haben konnte, der sie in dieser Weise
drangsalieren würde - dann machte es auch keinen Sinn, überhaupt jemandem davon zu
erzählen.
Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.
Der einzige Mensch, dem gegenüber sie sich öffnen könnte, war Chad. Weil er sowieso Bescheid
wusste. Vielleicht sollte sie mit ihm sprechen. Es konnte auch nützlich sein, wenn er die
E-Mails löschte, die sie ihm geschickt hatte. Vor allem die angehängten Dateien. Es war
leichtsinnig von ihr gewesen, diese Dinge durch das Internet zu schicken. Sie hatte geglaubt,
es riskieren zu können, weil längst Gras über die ganze Sache gewachsen war. Weil das alles so
weit hinter ihr, hinter ihnen beiden lag.
Möglicherweise hatte sie sich darin
geirrt.
Vielleicht sollte sie auch das umfangreiche
Material in ihrem eigenen Computer vernichten. Es würde ihr schwer fallen, aber wahrscheinlich
war es besser so. War am Ende ohnehin eine Schnapsidee gewesen, alles aufzuschreiben. Was hatte
sie sich davon nur versprochen? Erleichterung? Bereinigung ihres Gewissens? Eher schien es ihr,
als habe sie etwas für sich klären wollen, für sich und Chad. Vielleicht hatte sie gehofft,
sich selbst besser zu verstehen. Aber es hatte nichts gebracht. Sie verstand sich selbst
keineswegs besser als vorher. Es hatte sich nichts geändert. Man änderte das eigene Leben nicht
rückwirkend, indem man es analysierte, in eine Form zu bringen versuchte, die die Geschehnisse
relativieren sollte. Fehler blieben Fehler, Sünden blieben Sünden. Man hatte mit ihnen leben
müssen, man würde mit ihnen sterben.
Sie drückte ihre Zigarette in einem Blumentopf
aus und ging in ihr Arbeitszimmer, um den Computer zu starten.
Der letzte Interessent war der Schlimmste
gewesen. Er hatte nicht einen Moment lang aufgehört zu nörgeln. Der Parkettfußboden war
abgetreten, die Türgriffe wirkten zu billig, die Fenster schienen nicht ausreichend isoliert,
die Räume waren schlecht geschnitten und ungünstig zueinander gelegen, die Küche war unmodern,
der Blick in den kleinen Park hinter dem Haus völlig reizlos.
»Nicht geschenkt«, sagte er
wütend, ehe er ging, und Leslie musste sich beherrschen, die Wohnungstür hinter ihm nicht laut
zuzuschmettern. Es hätte sie erleichtert, aber tatsächlich war das Schloss nicht mehr ganz in
Ordnung - wie zugegebenermaßen vieles andere in der Wohnung auch -, und eine solche Gewalthandlung hätte ihm womöglich endgültig
den Garaus gemacht. »Mistkerl«, sagte sie deshalb nur aus tiefstem Herzen, dann ging sie in die
Küche, zündete sich eine Zigarette an und schaltete die Kaffeemaschine ein. Ein Espresso würde
ihr jetzt gut tun. Sie blickte aus dem Fenster in den regnerischen Tag. Natürlich sah der Park
bei diesem grauen Nieselwetter nicht besonders verlockend aus, dennoch war es auch dieser
baumbestandene Flecken mitten in London gewesen, weshalb sie und Stephen sich zehn Jahre zuvor
in die Wohnung verliebt hatten. Ja, die Küche war altmodisch, die Böden knarrten, vieles war
abgewohnt und unpraktisch, aber die Wohnung hatte Charme und Seele, und sie fragte sich, wie
jemand das nicht erkennen konnte. Großkotziger Typ.
Aber herumgemeckert hatten sie alle. Die
ältere Frau, die als Zweite gekommen war, noch am wenigsten. Vielleicht hatte sie in ihr
endlich eine Nachmieterin gefunden ... Die Zeit wurde knapp. Ende Oktober stand Leslies Umzug
bevor. Wenn sie bis dahin niemanden hatte, der in ihren bestehenden Mietvertrag einstieg,
musste sie doppelt zahlen, und das würde sie sich nicht allzu lange erlauben können.
Nerven behalten, ermahnte sie
sich.
Als das
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