Das andere Kind
Telefon klingelte, war sie kurz
versucht, den Apparat zu ignorieren, aber dann dachte sie, dass es ein Interessent für die
Wohnung sein könnte, ging in den Flur hinaus und nahm den Hörer ab.
»Cramer«, meldete sie sich. Ihr Ehename kam
ihr zunehmend schwer über die Lippen. Ich sollte meinen alten N amen annehmen, überlegte
sie.
Eine scheue, leise Stimme am anderen Ende.
»Leslie? Hier ist Gwen. Gwen aus Staintondale!«
»Gwen aus
Staintondale!«, sagte Leslie. Mi t Gwen, der Freundin aus Kinder- und Jugendtagen, hatte sie absolut nicht gerechnet, aber sie
freute sich. Sie hatte ewig nichts von ihr gehört. Es mochte ein Jahr her sein, seit sie sie
zuletzt gesehen hatte, und an Weihnachten hatten sie kurz telefoniert, aber nicht viel mehr als
die obligatorischen guten Wünsche für das neue Jahr ausgetauscht.
»Wie geht es dir?«, fragte Gwen. »Ist
alles in Ordnung? Ich habe erst im Krankenhaus angerufen, aber sie sagten, du hättest Urlaub
genommen.«
»Ja, habe ich. Für ganze drei Wochen.
Ich muss einen Nachmieter suchen und meinen Umzug vorbereiten, und ... ach ja, scheiden lassen
musste ich mich auch noch. Seit Montag bin ich wieder auf dem freien Markt!« Sie lauschte ihrer
eigenen Stimme nach. So locker, wie sie die Neuigkeit verkündete, fühlte sie sich weiß Gott
nicht. Es tat erstaunlich weh. Immer noch.
»Ach du liebe Güte«, sagte Gwen
betroffen. »Das ... ich meine, wir haben es ja alle kommen sehen, aber irgendwie hat man immer
gehofft ... Wie fühlst du dich?«
»Na ja, wir sind ja schon seit zwei
Jahren getrennt. Insofern hat sich nicht viel verändert. Aber da es trotz allem eine Zäsur in
meinem Leben ist, habe ich mir eine neue Wohnung gemietet. Diese hier ist auf die Dauer zu
groß, und außerdem ... irgendwie ist sie zu sehr mit Stephen verbunden.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Gwen.
Sie klang bedrückt, als sie fortfuhr: »Ich ... ich komme mir jetzt ganz taktlos vor, aber ...
ich wusste wirklich nicht, dass du gerade erst geschieden worden bist, sonst ... ich meine, ich
hätte nicht ... «
»Mir geht's gut. Ehrlich. Also
stottere nicht herum. Weshalb rufst du an?«
»Wegen ... also, ich hoffe, du nimmst
mir das nicht übel, aber ... du sollst zu den Ersten gehören, die es erfahren: Ich werde
heiraten!« Leslie war tatsächlich für einen Moment sprachlos. »Heiraten?«, wiederholte sie dann
und dachte, dass die Verblüffung in ihrer Stimme verletzend sein musste für Gwen, aber sie
hatte es einfach nicht geschafft, ihre Überraschung zu verbergen. Gwen, der Prototyp der alten
Jungfer, das altmodische Mädchen aus der ländlichen Abgeschiedenheit ... Gwen, für die die Zeit
stehen geblieben zu sein schien, irgendwo in einem vergangenen Jahrhundert, in dem die jungen
Frauen daheim warteten, bis der Edelmann auf seinem Pferd kam und um ihre Hand anhielt ...
Heiraten? Einfach so?
»Entschuldige«, sagte sie hastig, »es
ist nur ... ich dachte immer, du machst dir nichts aus der Ehe.«
Das war gelogen. Sie wusste, dass
sich Gwen danach verzehrt hatte, die Geschichten aus den Liebesromanen, die sie förmlich
verschlang, in ihrem eigenen Leben wahr werden lassen zu können.
»Ich bin so glücklich«, sagte Gwen,
»so unglaublich glücklich. .. Ich meine, ich hatte wirklich schon fast die Hoffnung aufgegeben,
noch jemanden zu finden, und nun werde ich in diesem Jahr heiraten! Wir dachten, Anfang
Dezember wäre ganz schön. Ach, Leslie, es ist auf einmal alles ... so anders!«
Leslie hatte sich endlich
gefasst.
»Gwen, ich freue mich so sehr für
dich!«, sagte sie aufrichtig. »Wirklich, du ahnst nicht, wie sehr! Wer ist der Glückliche? Wo
hast du ihn kennen gelernt?«
»Er heißt Dave Tanner. Er ist
dreiundvierzig Jahre alt, und ... er liebt mich.« »Wie wundervoll!«, sagte Leslie, aber erneut
stellte sich leise Verwunderung bei ihr ein. Im ersten Moment hatte sie an einen wesentlich
älteren Mann gedacht, einen Witwer vielleicht, abgeklärte sechzig Jahre alt, dem es auch ein
wenig darum ging, versorgt zu werden. Sie schämte sich dafür, aber tatsächlich konnte sie sich
keinen anderen Grund als einen eigennützigen vorstellen, aus dem heraus ein Mann sich mit Gwen
einlassen sollte. Gwen war ein lieber Mensch, aufrichtig und warmherzig, aber sie hatte wenig
an sich, was sie in den Augen eines Mannes hätte begehrenswert erscheinen lassen ... Es sei
denn, jemand blickte ausschließlich auf die inneren Werte eines
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