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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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aufgenommen.
    Amy Mills verschwand in der Dunkelheit.

OKTOBER 2008

DONNERSTAG, 9. OKTOBER
    Als das Telefon in Fiona Barnes' Wohnzimmer
    klingelte, schrak die alte Dame zusammen, verließ das Fenster, an dem sie gestanden und über
    die Bucht von Scarborough geblickt hatte, und ging auf das kleine Tischchen zu, auf dem der
    Apparat stand, unschlüssig, ob sie den Hörer abnehmen sollte. Sie hatte am Morgen einen
    anonymen Anrufbekommen und einen am gestrigen Mittag, und auch in der letzten Woche hatte es
    zwei dieser bedrückenden Vorfalle gegeben. Eigentlich wusste sie nicht, ob man das, was ihr da
    zustieß, überhaupt als anonymen Anrufbezeichnen konnte, denn am anderen Ende der Leitung wurde
    nie etwas gesagt. Sie konnte jedoch hören, dass jemand atmete. Falls sie selbst nicht sofort
    den Hörer auf die Gabel knallte, so wie sie es am Morgen entnervt getan hatte, legte der oder
    die Fremde stets nach etwa einer Minute des Schweigens von sich aus wieder auf.
    Fiona war nicht leicht zu erschrecken, sie rühmte
    sich guter Nerven und eines kühlen Kopfes, aber diese Geschichte störte und verunsicherte sie.
    Am liebsten hätte sie den Typen einfach auflaufen lassen und wäre nicht mehr an ihren
    Apparat gegangen, aber damit verpasste sie natürlich auch Anrufe, die wichtig waren oder die
    ihr am Herzen lagen. Ihre Enkelin Leslie Cramer zum Beispiel, die in London lebte und gerade
    das Trauma einer Ehescheidung durchmachte. Leslie hatte keinen Verwandten mehr außer der alten
    Großmutter in Scarborough, und gerade jetzt wollte Fiona für sie da sein. Also nahm sie nach
    dem fünften Läuten ab.
    Fiona Barnes«, meldete sie sich. Sie hatte eine
    kratzige, raue Stimme, die Folge exzessiven Kettenrauchens, das sie ihr Leben lang betrieben
    hatte.
    Schweigen am anderen Ende der Leitung.
    Fiona seufzte. Sie sollte sich ein neues Telefon
    anschaffen. Mit einem Display, auf dem man die Nummer des Anrufers sah. Wenigstens könnte sie
    dann Leslie stets erkennen und den Rest herausfiltern.
    »Wer ist da?«, fragte sie.
    Schweigen. Atmen.
    »Sie fangen an, mir auf die Nerven zu gehen«,
    sagte Fiona. »Sie haben offensichtlich ein Problem mit mir. Vielleicht sollten wir darüber
    sprechen. Ich fürchte, Ihre seltsame Taktik bringt uns beide nicht weiter.«
    Das Atmen wurde intensiver. Wäre sie jünger
    gewesen, hätte Fiona es für möglich gehalten, dass jemand sich in sie verguckt hatte und sich
    nun am Telefon beim Klang ihrer Stimme irgendwe1chen triebgesteuerten Aktivitäten hingab. Aber
    da sie im Juli neunundsiebzig Jahre alt geworden war, hielt sie das für äußerst
    unwahrscheinlich. Außerdem schien es nicht diese spezielle, auf sexuelle Stimulation
    hindeutende Atmung zu sein. Der Anrufer wirkte auf andere Art erregt. Gestresst. Aggressiv.
    Extrem aufgewühlt.
    Es ging nicht um Sex. Aber worum dann? »Ich lege
    jetzt auf«, drohte Fiona, aber ehe sie ihre Ankündigung wahr machen konnte, hatte der andere
    Teilnehmer die Verbindung bereits unterbrochen. Fiona vernahm nur noch ein gleichmäßiges Tuten
    aus dem Hörer.
    »Ich sollte zur Polizei gehen!«, sagte sie
    wütend, knallte den Hörer auf und zündete sich sofort eine Zigarette an. Allerdings fürchtete
    sie, dass man sie bei der Polizei abwimmeln würde. Sie wurde ja nicht einmal beschimpft, mit
    Obszönitäten belästigt oder bedroht. Natürlich würde jeder verstehen, dass auch wiederholtes
    Schweigen am Telefon als Drohung aufgefasst werden konnte, aber es bot kaum Anhaltspunkte, um
    wen es sich bei dem Anrufer handeln konnte. Die Polizei würde in diesem völlig vagen Fall auch
    keine Fangschaltung installieren, abgesehen davon war der Anrufer vermutlich clever genug,
    ausschließlich von öffentlichen Telefonen aus anzurufen und diese auch noch regelmäßig zu
    wechseln. Die Leute waren heutzutage fernsehkrimierfahren. Sie wussten, wie man es machen
    musste und welche Fehler man am besten vermied.
    Außerdem ...
    Sie trat wieder an das Fenster. Draußen war ein
    wunderbarer, sonnenüberfluteter Oktobertag, windig und klar, und die Bucht von Scarborough lag
    wie übergossen von goldenem Licht. Das Meer war aufgewühlt, von tief dunkelblauer Farbe, die
    Wellen trugen leuchtend weiße Schaumkronen. Jeder, der diesen Blick hätte genießen dürfen, wäre
    in Entzücken geraten. Nicht so Fiona in diesem Moment. Sie nahm gar nichts von dem wahr, was
    vor ihrem Fenster lag.
    Sie wusste, weshalb sie nicht zur Polizei ging.
    Sie wusste, weshalb sie bislang

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