Das andere Kind
Ziel sein, als wenn sie den
Umweg über den Strand nahm, aber der Nachteil war: Hier gab es keine Laternen. Der Weg verlor
sich zwischen Büschen und Bäumen in schwärzester Dunkelheit.
Sie tat
ein paar Schritte zurück, spähte in Richtung Brücke. Der Mann hatte fast deren Ende erreicht.
Bildete sie es sich ein, oder bewegte er sich tatsächlich langsamer voran als vorher? Etwas
zögerlicher? Was tat er überhaupt um diese Zeit an diesem Ort?
Ganz ruhig, Mills, du bist auch um diese Zeit an diesem Ort, sagte sie zu sich selbst, ohne dass deshalb ihr Herz auch nur einen halben
Takt langsamer gerast wäre. Er kann auf dem Heimweg sein, genau wie du!
Aber
wer war denn jetzt, bitte schön, noch auf dem Heimweg? Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht.
Nicht die Zeit, da Menschen für gewöhnlich von der Arbeit heimkehrten, es sei denn, sie jobbten
als Babysitter bei einer rücksichtslosen Mutter, die es grundsätzlich zu spät werden
ließ.
Ich
werde kündigen. Ich mache das nicht mehr mit. Für kein Geld der Welt, nahm sie sich
vor.
Sie
erwog jetzt ihre Optionen, die allesamt nicht ausgesprochen verheißungsvoll schienen. Sie
konnte über die Brücke zurück zum St. Nicholas Cliff laufen und dann den Weg durch die
Innenstadt, die lange Filey Road hinauf nehmen - aber das würde eine halbe Ewigkeit dauern.
Natürlich gab es Busverkehr, aber sie hatte keine Ahnung, ob ihre Linie so spät noch verkehrte.
Zudem hatte sie den Bus wenige Wochen zuvor wegen schlechten Wetters benutzt und war an der
Haltestelle von betrunkenen Jugendlichen mit rasierten Köpfen und allerhand Piercings
angepöbelt worden. Sie hatte Todesängste ausgestanden und sich geschworen, in Zukunft lieber
vom Regen durchweicht zu werdet. und eine Erkältung zu riskieren, als sich noch einmal in solch
eine Situation zu bringen. Angst - schon wieder. Angst, durch den dunklen Park zu laufen.
Angst, an der Haltestelle zu warten. Angst, Angst, Angst
Sie bestimmte ihr Leben, und das durfte so nicht weitergehen. Sie konnte nicht länger von einer
Krise in die nächste stolpern, indem sie einer Furcht auszuweichen versuchte und damit
unweigerlich die nächste heraufbeschwor. Um zum Schluss in einer kühlen, regnerischen Julinacht
wie paralysiert an einer Wegkreuzung zu stehen, ihren eigenen keuchenden Atem zu hören , ihr Herz wie einen schweren, schnellen Hammer
schlagen zu spüren und sich zu fragen, welche ihrer Ängste mehr oder weniger schlimm war. Was
letztlich zum berühmten Abwägen zwischen Pest und Cholera wurde, und das fühlte sich einfach
nur schrecklich an.
Der Mann befand sich nun auf derselben Höhe wie sie, blieb stehen und blickte zu ihr
herüber.
Er schien auf irgendetwas zu warten, womöglich auf etwas, das sein Gegenüber sagen oder tun
sollte, und da Amy ein Mädchen war, das gelernt hatte, Erwartungen zu entsprechen, öffnete sie
den Mund.
»Der ... der Weg ist gesperrt«, sagte sie. Ihre Stimme krächzte etwas, sie räusperte sich.
»Zwei Gitter ... man kann da nicht durch.« Er nickte kurz, wandte sich dann ab und schlug den
Weg in Richtung Strand ein. Den beleuchteten Weg.
Amy atmete auf. Harmlos, das war harmlos gewesen. Er wollte nach Hause, hätte normalerweise
vermutlich die Treppe genommen. Würde nun wahrscheinlich zum Spa Complex laufen und sich dann
an den Anstieg machen. Dabei in sich hineinfluchen, weil er länger unterwegs sein würde als
gedacht. Zu Hause wartete seine Frau. Sie würde schimpfen. Er hatte sich mit seinen Kumpels
ohnehin schon in der Kneipe verspätet, nun auch noch der Umweg. Nicht sein Tag. Manchmal kam
eben alles zusammen.
Sie kicherte, merkte aber selbst, wie nervös das klang.
Sie neigte dazu, sich die Lebensumstände wildfremder Leute zurechtzuphantasieren. Lag
wahrscheinlich daran, dass sie zu viel allein war. Wer zu wenig mit Menschen aus Fleisch und
Blut kommunizierte, musste sich eben im Reich der eigenen Einbildungen bewegen.
Noch ein Blick zurück zur Brücke. Niemand war dort zu sehen.
Der Fremde war in Richtung Strand verschwunden. Die Treppe war gesperrt. Amy zauderte nicht
mehr. Sie nahm den mittleren Weg, den unbeleuchteten. Das bisschen Mondschein, gedämpft hinter
langen Wolkenschleiern, reichte aus, sie den Pfad zu ihren Füßen ahnen zu lassen. Sie würde zur
Esplanade hinaufkommen, ohne sich die Knöchel zu brechen.
Die dichten, tropfnassen Büsche, die im vollen Sommerlaub standen, hatten sie nach wenigen
Sekunden
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