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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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Ziel sein, als wenn sie den
    Umweg über den Strand nahm, aber der Nachteil war: Hier gab es keine Laternen. Der Weg verlor
    sich zwischen Büschen und Bäumen in schwärzester Dunkelheit.
    Sie tat
    ein paar Schritte zurück, spähte in Richtung Brücke. Der Mann hatte fast deren Ende erreicht.
    Bildete sie es sich ein, oder bewegte er sich tatsächlich langsamer voran als vorher? Etwas
    zögerlicher? Was tat er überhaupt um diese Zeit an diesem Ort?
    Ganz ruhig, Mills, du bist auch um diese Zeit an diesem Ort, sagte sie zu sich selbst, ohne dass deshalb ihr Herz auch nur einen halben
    Takt langsamer gerast wäre. Er kann auf dem Heimweg sein, genau wie du!
    Aber
    wer war denn jetzt, bitte schön, noch auf dem Heimweg? Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht.
    Nicht die Zeit, da Menschen für gewöhnlich von der Arbeit heimkehrten, es sei denn, sie jobbten
    als Babysitter bei einer rücksichtslosen Mutter, die es grundsätzlich zu spät werden
    ließ.
    Ich
    werde kündigen. Ich mache das nicht mehr mit. Für kein Geld der Welt, nahm sie sich
    vor.
    Sie
    erwog jetzt ihre Optionen, die allesamt nicht ausgesprochen verheißungsvoll schienen. Sie
    konnte über die Brücke zurück zum St. Nicholas Cliff laufen und dann den Weg durch die
    Innenstadt, die lange Filey Road hinauf nehmen - aber das würde eine halbe Ewigkeit dauern.
    Natürlich gab es Busverkehr, aber sie hatte keine Ahnung, ob ihre Linie so spät noch verkehrte.
    Zudem hatte sie den Bus wenige Wochen zuvor wegen schlechten Wetters benutzt und war an der
    Haltestelle von betrunkenen Jugendlichen mit rasierten Köpfen und allerhand Piercings
    angepöbelt worden. Sie hatte Todesängste ausgestanden und sich geschworen, in Zukunft lieber
    vom Regen durchweicht zu werdet. und eine Erkältung zu riskieren, als sich noch einmal in solch
    eine Situation zu bringen. Angst - schon wieder. Angst, durch den dunklen Park zu laufen.
    Angst, an der Haltestelle zu warten. Angst, Angst, Angst
    Sie bestimmte ihr Leben, und das durfte so nicht weitergehen. Sie konnte nicht länger von einer
    Krise in die nächste stolpern, indem sie einer Furcht auszuweichen versuchte und damit
    unweigerlich die nächste heraufbeschwor. Um zum Schluss in einer kühlen, regnerischen Julinacht
    wie paralysiert an einer Wegkreuzung zu stehen, ihren eigenen keuchenden Atem zu hören , ihr Herz wie einen schweren, schnellen Hammer
    schlagen zu spüren und sich zu fragen, welche ihrer Ängste mehr oder weniger schlimm war. Was
    letztlich zum berühmten Abwägen zwischen Pest und Cholera wurde, und das fühlte sich einfach
    nur schrecklich an.
    Der Mann befand sich nun auf derselben Höhe wie sie, blieb stehen und blickte zu ihr
    herüber.
    Er schien auf irgendetwas zu warten, womöglich auf etwas, das sein Gegenüber sagen oder tun
    sollte, und da Amy ein Mädchen war, das gelernt hatte, Erwartungen zu entsprechen, öffnete sie
    den Mund.
    »Der ... der Weg ist gesperrt«, sagte sie. Ihre Stimme krächzte etwas, sie räusperte sich.
    »Zwei Gitter ... man kann da nicht durch.« Er nickte kurz, wandte sich dann ab und schlug den
    Weg in Richtung Strand ein. Den beleuchteten Weg.
    Amy atmete auf. Harmlos, das war harmlos gewesen. Er wollte nach Hause, hätte normalerweise
    vermutlich die Treppe genommen. Würde nun wahrscheinlich zum Spa Complex laufen und sich dann
    an den Anstieg machen. Dabei in sich hineinfluchen, weil er länger unterwegs sein würde als
    gedacht. Zu Hause wartete seine Frau. Sie würde schimpfen. Er hatte sich mit seinen Kumpels
    ohnehin schon in der Kneipe verspätet, nun auch noch der Umweg. Nicht sein Tag. Manchmal kam
    eben alles zusammen.
    Sie kicherte, merkte aber selbst, wie nervös das klang.
    Sie neigte dazu, sich die Lebensumstände wildfremder Leute zurechtzuphantasieren. Lag
    wahrscheinlich daran, dass sie zu viel allein war. Wer zu wenig mit Menschen aus Fleisch und
    Blut kommunizierte, musste sich eben im Reich der eigenen Einbildungen bewegen.
    Noch ein Blick zurück zur Brücke. Niemand war dort zu sehen.
    Der Fremde war in Richtung Strand verschwunden. Die Treppe war gesperrt. Amy zauderte nicht
    mehr. Sie nahm den mittleren Weg, den unbeleuchteten. Das bisschen Mondschein, gedämpft hinter
    langen Wolkenschleiern, reichte aus, sie den Pfad zu ihren Füßen ahnen zu lassen. Sie würde zur
    Esplanade hinaufkommen, ohne sich die Knöchel zu brechen.
    Die dichten, tropfnassen Büsche, die im vollen Sommerlaub standen, hatten sie nach wenigen
    Sekunden

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