Das andere Kind
Möglichkeit gesprochen. »Ihr habt ihn also in ein Heim gegeben«,
sagte ich, »und das war mit Sicherheit das Vernünftigste, was ihr tun konntet.« Chad schaute
wieder in sein Bierglas. »Ein Heim ... ja, das haben wir überlegt, Dad und ich. Aber ... es gab
da Probleme ... «
»Weshalb denn?«, fragte ich, und jetzt blickte er wieder auf und ich sah, dass er fast zornig
war, über meine Begriffsstutzigkeit wahrscheinlich und auch deshalb, weil ich ihn zwang, die
ganze Geschichte vor mir auszubreiten, statt einfach Ruhe zu geben und den Mantel des
Vergessens über Nobody und seinem Schicksal zu belassen.
»Meine Güte, Fiona, sei nicht so naiv! Du bringst einen Heranwachsenden wie Nobody ja nicht
einfach in ein Heim und sagst, hallo, der hier lebt seit fast sechs Jahren bei uns, aber nun
geht es nicht mehr, jetzt nehmt ihr ihn bitte. Ich meine, wir hätten doch dann sofort
irgendwelche Behörden am Hals gehabt. Es war ja von Anfang an nicht in Ordnung, wie die ganze
Geschichte gelaufen ist. Nobody hätte gar nicht bei euch evakuierten Kindern sein dürfen. Meine
Mutter hätte ihn nicht mit auf die Farm nehmen dürfen. Er hätte nicht, sozusagen als
Familiengeheimnis, bei uns aufwachsen dürfen.«
Ich erinnerte mich an den dunklen Abend im
November 1940, an die Wiese gegenüber dem kleinen Postamt von
Staintondale. Die verängstigten Kinder, die dort kauerten ...
»Die Begleiterinnen des Transports waren aber einverstanden, dass Emma ihn mitnahm«, sagte ich.
»Sie wussten nämlich in dem Moment auch nicht recht, wohin mit ihm. Sie wollten sich mit
höheren Stellen absprechen, was zu tun sei, und sich dann wieder melden. Dass sie das nicht
getan haben, ist ja nicht unsere Schuld gewesen.«
»Aber meine Mutter hätte sich melden müssen, als sie merkte, dass die Sache
offenbar vergessen oder übersehen worden war. Sie hatte einfach kein Recht auf Nobody. Er war
weder ihr Kind noch ihr Pflegekind. Er war einfach das andere
Kind, wie mein Vater ihn nannte. Du warst offiziell bei uns, er aber
nicht, und über diesen Umstand hätte sie nicht Jahre vergehen lassen dürfen.« »Sie wollte ihn
schützen. Sie hat es gut gemeint.« »Spätestens nach ihrem Tod hätte mein Vater etwas
unternehmen müssen. Ich weiß auch nicht genau, was ihn daran gehindert hat, seine Lethargie,
mit der er ohnehin alles schleifen lässt, oder eine Art Loyalität meiner Mutter gegenüber. Was
auch immer. Dann war der Krieg vorbei, ich kam zurück. Ich tat auch nichts. Irgendwie ... kam
es mir gar nicht in den Sinn. Man hatte sich ja in gewisser Weise an Nobody gewöhnt, und er
störte eigentlich nicht. Bis ... eben zu jenem Vorfall. Da wurde mir klar, dass hier eine
Zeitbombe tickt. Dass wir in riesige Schwierigkeiten kommen. Diese Frau hätte auch Anzeige
erstatten könne. Wir haben großes Glück, dass sie es nicht getan hat.«
Ich beugte mich vor. »Wo ist Nobody?«, fragte ich, jedes einzelne Wort betonend. Langsam fürchtete ich, sie
könnten ihn in der Badewanne ertränkt oder ins offene Meer hinausgejagt
haben.
»Es bot sich eine Gelegenheit«, sagte Chad. »Mein Vater wollte seinen alten Pflug verkaufen,
diese Nachricht hatte ich in der Gegend gestreut. Ein Farmer aus Ravenscar erschien deswegen
bei uns. Dabei sah er Nobody, der wie gewöhnlich um uns herumlungerte.«
»Und?«
»Er fragte, wer das sei. Mein Vater erzählte ihm in Andeutungen von dem Problem. Ein Kind, das
während des Kriegs auf unsere Farm evakuiert wurde. Das aber keine Eltern oder Verwandten mehr
habe. Von dem wir nicht wüssten, wohin damit ... Der Farmer - Gordon McBright heißt er -
meinte, er könne eine Arbeitskraft auf seinem Hof dringend brauchen. Wir warnten ihn natürlich.
Dass man Nobody eigentlich zu nichts einsetzen könnte, weil er nie etwas kapierte, dass er
zumeist mehr Unheil anrichtete, als dass er Dinge erledigte. Dad wies sogar auf seinen
ungeheuren Appetit hin, der in keinem vernünftigen Verhältnis zu der Leistung stand, die zu
erbringen er in der Lage war. Aber dieser McBright blieb dabei, dass er Nobody gut gebrauchen
könnte. Also stimmten Dad und ich schließlich zu.«
Ich konnte nicht anders, als danach zu fragen. »Nobody ... ist sicher nicht freiwillig
mitgegangen?« Chad stand abrupt auf. Der Teil der Geschichte schien noch mehr an seinen Nerven
zu zerren als der ganze Rest. Er stand mit dem Rücken zu mir, als er antwortete. »Nein. Er ist
nicht freiwillig mitgegangen.«
Er musste
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