Das andere Kind
liebst. Sag,
dass ich für immer bleiben soll! Bitte. Lass das Besondere dieser Nacht nicht einfach
vergehen.
Er aber hörte nicht auf, immer wieder finstere Blicke zum Tisch hin zu werfen. Er war wütend
auf seinen Vater, das war deutlich zu merken, und vielleicht dachte er schon gar nicht mehr an
das, was gerade eben unten am Strand geschehen war.
Und plötzlich wusste ich, was mich schon die ganze Zeit irritierte. Etwas fehlte. Etwas, das
mit Sicherheit unser Kommen bemerkt hätte und längst aufgetaucht wäre.
»Wo ist eigentlich Nobody?«, fragte ich.
Chad senkte die Augen. Es war auf einmal gespenstisch still in der Küche. Ich hörte, dass
irgendwo, wahrscheinlich in der Speisekammer, etwas raschelte. Eine Maus, wie ich
vermutete.
Fast angstvoll wiederholte ich meine Frage. »Chad! Wo ist Nobody?«
»Ja, also«, sagte Chad gedehnt, »es ging einfach nicht mehr.«
Wir saßen am Küchentisch, direkt unter der Lampe, deren Licht Chad müde und grau aussehen ließ,
und mich vermutlich auch. Chad hatte eine Bierflasche geöffnet und mir auch etwas angeboten,
aber ich hatte abgelehnt. Es war mir sehr ernst mit meiner Absicht, jede Berührung mit Alkohol
zu vermeiden.
Der Abend, die Nacht hatte sich verändert. Die Küche mit ihrem fauligen Geruch, die klamme Luft
im Haus, das Gefühl, dass etwas Bedrohliches auf mich zukam. Ich fröstelte. Ich fühlte mich
plötzlich elend.
»Was heißt das, es ging nicht mehr?«, hakte ich nach.
Chad starrte in sein Bierglas. »Er war nicht mehr der kleine Junge, an den du dich erinnerst.
Er ist plötzlich unheimlich gewachsen und war jetzt recht groß für sein Alter - das wir ja
nicht einmal genau kennen, aber ich schätze, er müsste um die vierzehn oder fünfzehn Jahre alt
sein. Es wird nicht mehr lange dauern, und er ist ein Mann.«
Ich dachte an den schlaksigen, kindlichen blonden Jungen. Nur dreieinhalb Jahre waren
vergangen, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, aber natürlich konnte er sich in dieser Zeit
sehr verändert haben. Es fiel mir nur schwer, mir das vorzustellen.
»Ja ... und?«
Er hob den Blick und sah mich an. »Fiona, sein Geist wächst doch nicht mit. Sein Verstand ist
noch immer der eines Kindes, und daran wird sich mit Sicherheit auch nichts mehr ändern. Meine
Mutter hat immer behauptet, er werde eines Tages aufwachen, aber das ist Unsinn. Nobody ist
schwer geistig behindert, daran lässt sich gar nicht herumdeuten.«
»Das ist ja nichts Neues«, sagte ich.
»Du kennst ihn als Kind. Da war er beschränkt, aber harmlos. Das hat sich geändert. Er ... «
Chad stockte. »Was denn?«, fragte ich. Meine Beklommenheit wuchs. »Es war im März dieses
Jahres«, sagte Chad, »als eine junge Frau hier auf dem Hof auftauchte. Eine Fremde, die Arbeit
suchte und die deswegen die Farmen hier oben abklapperte. Arbeit hätten wir genug gehabt, aber
kein Geld, sie zu bezahlen. Jedenfalls mussten wir sie wegschicken. Aber gerade als sie gehen
wollte ... kam Nobody aus dem Haus.«
Ich wartete.
»Die Frau war, wie gesagt, recht jung. Keine zwanzig Jahre alt. Sie hatte
sehr schöne lange, blonde Haare.« Ich ahnte, was kam. »Nobody hat ... ?« »Er lief auf sie zu,
grinste und fasste in ihre Haare. Dazu stieß er die unverständlichen Laute aus, mit denen er
sich immer zu unterhalten versuchte. Die Frau schien zu Tode erschrocken, bemühte sich, ihm
auszuweichen, aber er griff immer wieder in ihre Haare. Dann an ihre Brüste. Er sabberte
richtig. Er war ... ich habe das zum ersten Mal bei ihm erlebt ... er war hochgradig erregt.
Die Frau fing schließlich an zu schreien. Ich konnte Nobody von ihr wegzerren und festhalten,
und sie rannte davon, so schnell sie konnte. Ich brüllte ihn an, aber er grinste nur, und kaum
ließ ich ihn schließlich los, rieb er mit beiden Händen wild zwischen seinen Beinen herum. Es
war widerlich. Er war
widerlich.«
Ich schluckte trocken. »Das ist... das klingt wirklich nicht schön.«
Chad neigte sich vor. »Und es wird schlimmer werden. Er hat die Sexualität eines Mannes, aber
den Verstand und die Reife eines kleinen Kindes. Das heißt, er kann seine Begierde absolut
nicht kontrollieren. Er weiß ja nicht einmal, was da mit ihm passiert. Er ist eine Gefahr für
jede Frau, der er begegnet. Und Vater und ich können ihn nicht den ganzen Tag
bewachen.«
Ich glaubte nun zu wissen, was kam, und entspannte mich etwas. Schließlich hatten wir schon
früher immer wieder über diese
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