Das andere Kind
Namensschild.
»Da öffnet niemand«, sagte der Mann hinter ihr.
Valerie drehte sich um. »Nein? Möchten Sie denn auch in die Wohnung der verstorbenen Mrs.
Barnes«
»Ich habe dreimal geklingelt, aber ... « Der Mann hob die Schultern. Dann stellte er sich vor.
»Dr. Stephen Cramer. Ich wollte zu meiner Frau ... zu meiner geschiedenen Frau. Leslie Cramer.
Aber sie scheint nicht da zu sein. Es brennt auch kein Licht oben.«
»Detective Inspector Valerie Almond«, sagte Valerie und hielt ihm ihren Ausweis entgegen. Er
warf einen flüchtigen Blick darauf. »Ich möchte auch zu Mrs. Cramer.«
Er wirkte besorgt. »Ich habe mich umgesehen«, sagte er, »ihr Auto scheint nirgendwo hier zu
parken.«
»Sie haben keinen Schlüssel zu der Wohnung?«
»Nein. Ich wohne im Crown Spa Hotel, ein Stück die Straße hinunter. Ich habe Leslie seit zwei
Tagen nicht mehr gesehen.«
„Ist das ungewöhnlich?«
Er zögerte. „Nun ... sie weiß, wo sie mich finden kann. Aber vielleicht sieht sie keinen Grund,
mich aufzusuchen. Bloß, wo ist sie jetzt? Um diese Zeit?«
Valerie hatte den Eindruck, dass Leslies Ex noch ziemlich an der Scheidung
zu knabbern hatte. Wahrscheinlich hing er
seit zwei Tagen in seinem Hotel herum und hoffte und wartete, dass seine einstige Ehefrau sich
bei ihm blicken ließ - was dieser offenbar keinen Moment lang in den Sinn gekommen war. Nun
hatte er es nicht mehr ausgehalten und spionierte hinter ihr her, und die Tatsache, dass sie
keineswegs brav Daheimsass, gab ihm den Rest.
Armer Junge, dachte Valerie.
Ihm schien plötzlich zu Bewusstsein zu kommen, dass es ungewöhnlich war, am späten Abend eine
ranghohe Polizistin vor der Haustür seiner Exfrau anzutreffen, die allem Anschein nach etwas
mit ihr zu klären hatte, das nicht bis zum nächsten Tag warten konnte. »Ist etwas passiert?«,
fragte er alarmiert.
»Wissen Sie, wo sich Dave Tanner aufhält?«, fragte Valerie. Stephen runzelte die Stirn. »Dave
Tanner? Der Verlobte von Gwen Beckett, oder? Nein, keine Ahnung. Warum?« »Ich würde gern mit
ihm sprechen«, antwortete Valerie ausweichend.
»Und Sie vermuten ihn hier?«
»Eigentlich nicht. Nein, ich mache mir Gedanken um Leslie Cramer. Sie rief mich gegen sieben
Uhr an und wollte mich treffen, um mir etwas Wichtiges im Zusammenhang mit der Ermordung ihrer
Großmutter zu sagen. Wir verabredeten uns in einer Pizzeria. Dort erschien sie aber nicht. Sie
rief auch nicht mehr an und ist selbst nicht erreichbar. Mir kam das langsam seltsam vor,
deshalb bin ich nun hier.«
»Das ist in der Tat sehr seltsam«, sagte Stephen. »Von wo aus rief sie denn an?«
»Sie war im Auto. Irgendwo kurz vor Staintondale. Sie sagte, sie komme gerade aus Robin Hood's
Bay. Haben Sie eine Ahnung, was sie dort getan hat?«
»Nein. Wie gesagt ... wir hatten leider keinen Kontakt in den letzten Tagen.«
»Irgendetwas«, murmelte Valerie, »ist ihr dazwischengekommen ... «
»Ob sie zur Beckett-Farm gefahren ist? Wenn sie sowieso gerade in der Nähe war?«
»Warum sollte sie? Aber ich werde dort anzurufen versuchen. Haben Sie zufällig die Nummer?«
Stephen hatte sie in seinem Handy gespeichert. Aber auch bei den Becketts meldete sich
niemand.
»Das ist mehr als merkwürdig«, meinte Stephen. »Soweit ich weiß, verlässt der alte Chad Beckett
praktisch nie das Haus! Weshalb ist er nun auch nicht da? Ich frage mich ... « Er
zögerte.
»Ja?«,fragte Valerie. »Leslie hat Ihnen noch nichts von diesen Briefen erzählt? Die Fiona
Barnes an Chad Beckett geschrieben hatte?« »Nein. Welche Briefe?«
»E-Mails«, sagte Stephen unbehaglich. »Gwen hatte sie wohl gefunden und diesem Ehepaar, diesen
Feriengästen zu lesen gegeben. Von denen gelangten sie in Leslies Hände. Ich weiß nicht, was
genau darin steht, aber Leslie erzählte, dass sich offenbar Chad und Fiona irgendwann vor
Jahren in etwas verstrickt hatten... dass es da eine dunkle Geschichte in ihrem Leben gab, von
der bislang niemand etwas wusste. Sie war beunruhigt deswegen.«
Valerie starrte ihn an und schnappte dabei buchstäblich nach Luft. »Das gibt es doch nicht! Das
kann ja wohl nicht wahr sein! Wieso weiß ich das nicht?«
Stephen schien noch beklommener. »Ich habe Leslie gedrängt, Ihnen die Papiere auszuhändigen.
Ich war der Überzeugung, dass sie das, was sie da erfahren hatte, auf keinen Fall für sich
behalten durfte. Aber sie ... zögerte. Fiona ... ihre Großmutter ... kam wohl ziemlich schlecht
weg bei
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