Das andere Kind
abreißen.
»Zwei Punkte, Gwen«, sagte sie, »die mir nicht einleuchten: Zum einen, weshalb du die Schuld an
alldem bei Fiona und Chad suchst. Und zum anderen, weshalb dir nie ein anderer Einfall gekommen
ist, als einen Ausweg aus deiner Situation über das Kennenlernen des perfekten Mannes zu
suchen. Warum nicht eine Ausbildung? Ein Beruf? Eigenes Geld, Unabhängigkeit? Da hätte doch der
Weg gelegen. Nur da.«
Gwen sah sie erstaunt an. »Das hätte ich doch nie geschafft«, sagte sie und schien aufrichtig
verwundert darüber, dass Leslie einer solchen Idee nachhängen konnte. So verwundert, dass
Leslie begriff: Gwen jetzt in einem Schnelldurchlauf klarzumachen, dass sie intelligent und
fähig war, und dass sie wie nahezu jeder andere Mensch einen Beruf hätte erlernen und ihren
eigenen Weg gehen können, wäre nicht möglich. Es würde vermutlich auch in monatelanger Arbeit
nicht gelingen. Zumindest hätte es eines sehr gut ausgebildeten Psychologen bedurft, aber nicht
nur dafür. Jahrzehnte von Gwens Leben, beginnend mit der frühesten Kindheit, würden
aufgearbeitet werden müssen, und ob es jemals helfen würde, wäre ungewiss.
»Ach, Gwen«, sagte sie leise, aber sie beharrte nicht auf einer Antwort auf ihre andere Frage,
denn die Erklärung stand ohnehin klar und deutlich vor ihr. Der Hass auf Fiona und Chad, die
Schuldzuweisung, die ihre Konsequenz schließlich nur noch in Mord gefunden hatte. Der Grund
ergab sich aus all den Selbstzweifeln, in denen Gwen gefangen war, in ihrer Angst vor dem
Leben, in ihrer Unfähigkeit, Verantwortung für sich und ihre Zukunft zu übernehmen. Ihr Leben
war Schmerz. War Unsicherheit, das Gefühl ewiger Unterlegenheit. Die Erfahrung, nicht
angenommen, stets zurückgewiesen zu werden. Sie war klug genug zu begreifen, dass die Weichen
in ihrer Kindheit gestellt worden waren - der Vater, der ihr nur Gleichgültigkeit
entgegengebracht hatte. Fiona, die beharrlich über Jahre die Ehe ihrer Eltern gestört hatte.
Der Tod der Mutter, den sie vermutlich zu Recht der unausgelebten und doch unauflösbaren
Liaison zwischen Chad und Fiona anlastete. Gwens Schuldzuweisungen waren nicht die Ausgeburt
eines kranken Gehirns, Leslie schienen sie folgerichtig und zutreffend. Aber die Konsequenzen,
die Gwen daraus gezogen hatte, waren krank. Für einen Menschen wie sie jedoch, der sich
zeitlebens mit dem Rücken an der Wand gefühlt hatte, stellten sie den einzigen, bitteren,
unausweichlichen Weg dar.
Gwen hatte es nicht mehr ertragen. Und sie hatte begonnen, sich zu wehren.
»Ich habe, wie gesagt, viele Stunden am Computer verbracht«, sagte Gwen, »und dabei bin ich an
die Mails geraten, die deine Großmutter meinem Vater schickte. Ich konnte es kaum glauben, was
ich da las. Und doch passte es so gut zu den beiden, das, was mit dem armen Brian Somerville
passiert war. Es passte zum Autismus meines Vaters. Und zum beinahe krankhaften Egoismus
Fionas. Wer sich nicht wehren konnte, sprang bei den beiden über die Klinge. So waren sie. So
sind sie immer gewesen.«
»Und du dachtest, du könntest Brian und Semira für deine Planung benutzen«, stellte Leslie
fest, nicht ohne Bitterkeit. Es kam ihr wie eine besondere Tragik dieser beiden Menschen vor,
die jeder auf seine Art so viel hatten leiden müssen im Leben: dass sie am Ende noch zum
Werkzeug wurden, dass sie missbraucht wurden von einer geisteskranken Mörderin. »Es bot sich ja
förmlich an«, sagte Gwen.
„Hattest du von Anfang an vor, Dave die Sache in die Schuhe zu schieben?«, fragte Leslie. Dave
hatte, so dachte sie, jedenfalls eifrig daran mitgewirkt, möglichst verdächtig zu erscheinen.
In seiner Panik, ihm könnte eine Schuld angelastet werden, hatte er sich schließlich in immer
mehr Lügen verstrickt. Zunächst verschwiegen, dass er sein Haus am Abend der Tat noch einmal
verlassen hatte, und als er damit aufgeflogen war, hatte er es nur schlimmer gemacht, indem er
eine Liebesnacht mit seiner Exfreundin erfand. Im Grunde hatte Gwen gar nicht mehr viel tun
müssen, um ihn in einem höchst zweifelhaften Licht erscheinen zu lassen.
Gwen schüttelte energisch den Kop£ „Nein. Erst als ich nach und nach
merkte, dass er ... es nicht ernst meinte mit mir. Ich bin nicht dumm, weißt du. Ich wette, ihr
habt euch alle gefragt, wie ich so vermessen sein konnte zu glauben, dass es ein Typ wie Dave
wirklich auf mich abgesehen hat. Wahrscheinlich hat einer den anderen gedrängt, mir
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