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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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doch
    endlich die Augen zu öffnen. Armes, naives Ding, das ich bin! Sorgen habt ihr euch gemacht und
    Gedanken um das böse Erwachen, das ich eines Tages erleben würde ... Dabei, ganz ehrlich,
    Leslie, bin ich nicht einmal halb so verblödet, wie ihr es mir immer unterstellt habt. Mir war
    vom ersten Moment an klar, dass Dave nicht der typische Bewerber für eine Frau wie mich
    ist , und ich habe ihn scharfbeob achtet.
    Ich hätte nicht deine Großmutter gebraucht, um auf die Idee zu kommen, dass er es vielleicht
    nur auf meinen Besitz abgesehen haben könnte. Mehr und mehr verdichteten sich Beweise für diese
    Annahme. Es tat weh. Denn weißt du, trotz all meiner Skepsis, trotz all meiner Vorbehalte habe
    ich mich in ihn verliebt. Es war eine wunderschöne Zeit mit ihm. Seine Aufmerksamkeit, sein
    Bemühen, auch wenn es in Wahrheit gar nicht mir galt - es war etwas Besonders. Ich hatte so
    etwas nie vorher erlebt. Es war schön. Es gab Momente, die habe ich genossen. Die waren wie ein
    Traum.«
    Sie klang traurig. Die alte Gwen blitzte durch in diesem Moment - die immer etwas
    melancholische, friedfertige Gwen.
    Und Leslie dachte: Wir haben nicht bemerkt, dass sie verrückt ist. Aber warum haben wir nicht
    wenigstens bemerkt, dass sie so traurig ist?
    »Warum hast du auf ihn geschossen?«, fragte sie. »Dein Plan, ihm die Verbrechen an Fiona und
    Chad in die Schuhe zu schieben, ist damit hinfällig.«
    »Ich konnte nicht anders«, sagte Gwen. »Mit ihm im Wohnzimmer zu sitzen, Abschied von ihm zu
    nehmen, zu spüren, wie sehr es ihn wegzog, zu merken, dass er nur noch aus Anstand die Stunden
    absaß, aber eigentlich vibrierte, weil er mich nicht mehr ertrug, weil er wegwollte, nur weg
    ... Es tat so weh. Es tat so entsetzlich weh. Ich konnte ihn nicht gehen lassen. Ich hätte es
    nicht ertragen.« »Du hast ihn überredet, mit dir an den Strand zu gehen?« »Ich sagte, ich müsse
    raus. Ich bat ihn, mitzukommen. Er wollte nicht, aber ich glaube, ich tat ihm leid. Also ging
    er mit. Ich nehme an, es ging für ihn wirklich nur noch darum, die Sache einigermaßen anständig
    zu Ende zu bringen. Dazu gehörte, dass er mich nicht allein sitzen ließ, nach- dem er mir die
    Hochzeit aufgekündigt hatte. Gottergeben wanderte er mit mir zur Bucht. Ich hatte die Waffe
    eingepackt. Ich wusste noch nicht, was ich tun würde, aber ich wusste, dass ich ihn nicht würde
    gehen lassen.« »Bist du sicher, dass er noch lebt?«, fragte Leslie.
    »Keine Ahnung. Er lebte, als ich wegging. Entweder er verblutet, oder die Flut holt ihn ... was
    weiß ich. Letztlich ist mir das auch egal. Es ist jetzt sowieso alles egal, oder?«
    Sie sagte es mit einer Stimme, in der Resignation schwang. Leslie hakte sofort nach. »Es ist
    nicht alles egal, Gwen«, sagte sie drängend. »Dein Vater lebt noch. Dave lebt vielleicht auch
    noch. Lass uns einen Notarzt holen. Bitte. Du kannst die beiden noch retten. Es ist ... es
    wären dann nicht zwei Morde, die du ..«
    Gwen unterbrach sie ärgerlich: »Nein, es wären nur der Mord an Fiona und zwei versuchte Morde.
    Glaubst du, damit komme ich sehr viel besser weg? Glaubst du, damit fühlt sich das Gefängnis
    schöner an? Blödsinn, Leslie. Und das weißt du auch!«
    Ihr Wesen, wie es sich in diesen Momenten darstellte, war von seltsamer Widersprüchlichkeit,
    erkannte Leslie. Einerseits konnte sie ihre Situation genau einschätzen, wusste, dass sie im
    Gefängnis landen würde, und war entschlossen, dies zu verhindern. Gleichzeitig schien sie
    jedoch das Verfahrene ihrer Lage nicht zu begreifen. Dachte sie ernsthaft, sie würde heil aus
    alldem hervorgehen? Ihren Vater abknallen, Dave, Leslie? Und danach weiterleben, als wäre
    nichts geschehen, unbehelligt vom Misstrauen der Polizei?
    Auch in ihrem gesamten Vorgehen offenbarte sie zwei Seiten: Mit größter
    Kälte hatte sie die Geschichte des Brian Somerville den Menschen ihrer Umgebung zur Kenntnis
    gebracht, um ein Motiv für die Morde an Chad und Fiona in Umlauf zu bringen, das irgendwann
    auch der Polizei zu Ohren kommen musste. Gut durchdacht hatte sie
    schließlich versucht, Daves ohnehin prekären Status als Verdächtiger zu unterfüttern. Um sich
    dann plötzlich selbst zu sabotieren, indem sie hinging und Dave über den Haufen schoss,
    überwältigt von ihren Emotionen, von ihrer Unfähigkeit, seinen Abschied zu akzeptieren und zu
    ertragen.
    Sie war raffinierter, wissender und taktisch beschlagener, als es irgendjemand je von

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