Das andere Kind
Menschen in Ruhe, denen es schlechter
geht als dir!«
»Mein Leben war nie satt und selbstgefällig, so gut solltest du mich kennen
nach all den Jahren. Und auch Leslie ist nicht das, was du offensichtlich in ihr sieh st. Andere Menschen schlagen sich auch mit
Problemen herum, Gwen, selbst wenn du dir das nicht vorstellen kannst.«
»Sei endlich still!«, fauchte Gwen.
Jennifer meinte zu erkennen, dass die Waffe in ihrer Hand ein wenig zitterte. Gwen war nervös
und unsicher. Sie hatte offenbar gehofft, Leslie werde auf ihr Geheiß hin in den Abgrund
springen, wenn sie sie mit dem Revolver bedrohte. Es schien ihr nicht leicht zu fallen, die
einstige Freundin über den Haufen zu schießen. Und nun war noch jemand aufgetaucht, hielt sich
zudem im Dunkeln und war damit zu einer unsichtbaren Bedrohung geworden. Gwen wirkte wie
jemand, der sich in die Enge getrieben fühlt. Was die Situation jeden Moment eskalieren lassen
konnte.
»Gwen, ganz gleich, was du jetzt empfindest, Leslie und ich sind immer deine Freunde gewesen«,
sagte Jennifer, »und wir bleiben es. Bitte. Leg die Waffe weg. Lass uns reden.« »Ich will nicht
mit euch reden«, rief Gwen. »Ich will, dass ihr mich in Ruhe lasst. Dass ihr endlich alle
verschwindet.« Leslie machte eine Bewegung. Sofort fuhr Gwen herum, richtete wieder die Waffe
auf sie. »Du bist gleich tot!«, warnte sie.
Jennifer wagte sich noch näher heran. »Gwen. Tu es nicht.«
Jetzt drehte sich Gwen ruckartig wieder zu ihr. Die Waffe zielte direkt auf Jennifers Brust.
»Ich sehe dich«, sagte sie, und es klang triumphierend. »Ich sehe dich, Jennifer, und ich warne
dich: Noch einen Schritt näher, und ich knall dich ab. Verlass dich darauf.«
»Gwen«, sagte Jennifer beschwörend.
Sie machte noch einen Schritt nach vorn. In der nächsten Sekunde fiel der Schuss. Alles geschah
gleichzeitig: Leslie schrie gellend auf. Jennifer klammerte sich am Geländer fest, weil die
Brücke auf einmal bedrohlich schwankte. Sie wartete auf den Schmerz, von dem sie glaubte, dass
er wie ein Messer in sie hineinfahren musste. Sie wartete, dass ihre Beine unter ihr nachgeben,
dass sie stürzen würde. Sie wartete auf das Blut, das gleich fließen musste.
Und sah, dass Gwen stürzte. Langsam, fast wie in Zeitlupe. Sie sank auf die hölzerne Brücke
nieder, fiel geschmeidig wie eine Tänzerin, die sich in eine neue Position gleiten lässt. Die
Waffe rutschte seitlich weg, blieb liegen, direkt vor dem Geländer, durch das sie, hätte sie
ein wenig mehr Schwung gehabt, beinahe verschwunden wäre.
Leslie ging neben Gwen in die Knie, fasste den Arm, fühlte den Puls. Auch das sah Jennifer. Und
wunderte sich noch immer, dass sie stand. Dass sie keine Schmerzen hatte.
Dann vernahm sie eine Stimme hinter sich. »Polizei. Bewegen Sie sich nicht!«
Sie drehte sich um. Ein Schatten kam aus der Dunkelheit, betrat die Brücke. Jennifer erkannte
Valerie Almond. Sie hielt ihre Pistole in der Hand. Und Jennifer begriff, dass es die Beamtin
gewesen war, die geschossen hatte. Auf Gwen.
Sie erkannte, dass sie selbst unverletzt geblieben war. Und nicht länger auf den Schmerz warten
musste.
SAMSTAG, 18. OKTOBER
Das Wetter war grau und windig, und es war kälter
als an den Tagen zuvor. Dicke, wütend geballte Wolken trieben über den Himmel. Der Wind, der
über die baumlosen Hochmoore strich, war eisig kalt. Ein paar Schafe drängten sich unterhalb
der Hügel dicht zusammen. Nichts war von der Stimmung des goldenen Oktober vom Anfang der Woche
geblieben, aber auch nichts von der Novemberatmosphäre der nebligen und regnerischen Tage.
Dieser Tag heute schien in ein eigentümliches Nichts getaucht. Einfach nur grau. Ein leerer
Tag.
Vielleicht nur für mich, dachte Leslie,
vielleicht sehe ich nur meine eigene Leere dort draußen. Sie saß in ihrem Auto und befand sich
auf der Straße nach Whitby. Und fühlte sich innerlich kalt und einsam.
Sie hatte Semira Newton angerufen und nach dem
Pflegeheim gefragt, in dem Brian Somerville untergebracht war, und nach ein paar Minuten des
Zögerns hatte Semira ihr die gewünschte Auskunft gegeben.
»Verletzen Sie ihn nicht«,
hatte sie gebeten. Leslie hoffte, dass nicht ihr Besuch allein den alten Mann schon verstörte.
Ich kann jederzeit noch umkehren, dachte sie, während die ersten Reihenhäuser von Whitby am Straßenrand auf tauchten. Auf der
linken Seite erstreckte sich das weitläufige Gelände eines großen Friedhofs. Die Straße
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