Das andere Kind
Schultern fröstelnd zusammengezogen. Er blickte
über den Hafen. Nichts hatte sich verändert in der Zeit, die vergangen war. Nicht der kalte
Wind. Und nicht die beinahe feindselige Trostlosigkeit des Tages.
Stephen wandte sich
um, als er ihre Schritte hörte. Er sah völlig verfroren aus, wie sie feststellte.
»Was tust du denn
hier?«, fragte sie anstelle einer Begrüßung. Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ich
dachte ... vielleicht möchtest du jetzt nicht allein sein.« »Woher wusstest du, dass ich hier
bin?«
»Du warst plötzlich
verschwunden. Ich habe es einfach erraten. Du hattest gesagt, dass Brian Somerville in einem
Pflegeheim in Whitby lebt, und über die Auskunft war es dann nicht so schwer herauszufinden ...
Es gibt nur zwei solche Heime hier. Ich hatte gleich beim ersten Versuch Glück. Ich sah dein
Auto auf dem Parkplatz, und ... na ja, ich beschloss, hier zu warten.«
Sie lächelte
schwach. »Danke«, sagte sie leise.
Er sah sie
aufmerksam an. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja. Ja, ich bin
okay.« Sie blickte an ihm vorbei, hielt sich mit den Augen an der Spitze eines Baukrans fest,
dessen dunkles Metall sich scharf vor dem wolkigen Himmel abzeichnete. Eine Möwe saß dort oben
und spähte konzentriert in das tief unter ihr liegende Wasser. Irgendwo in der Ferne tutete ein
Schiff
„Er wartet immer
noch«, sagte Leslie. Ihre Stimme klang fremd, und sie wusste, dass das von der Anstrengung
herrührte, die Fassung zu wahren. „Er wartet immer noch, Stephen, und er ist überzeugt, dass
sie kommt. Seit Februar 1943 wartet er, voller Vorfreude und Hoffnung. Er hat mich nach ihr
gefragt, dieser alte Mann, und ich ... habe es nicht fertig gebracht, ihm zu sagen ... « Sie
konnte nicht weitersprechen.
„Du konntest ihm
nicht sagen, dass sie tot ist«, vollendete Stephen ihren Satz. „Du konntest ihm nicht sagen,
dass sie nie mehr kommen wird.«
„Nein. Ich konnte
es einfach nicht. Diese Hoffnung ist doch alles, was er hat. Sie hat ihn durch sein ganzes
schreckliches, grausames Leben getragen. Sie wird ihn bis zu seinem Tod begleiten, und
vielleicht ... ist es das Barmherzigste, was man für ihn tun kann: sie ihm zu
lassen.«
„Gott sei Dank«,
sagte Stephen. „Gott sei Dank, dass du so entschieden hast.«
„Gehen wir ein paar
Schritte?«, fragte Leslie. „Es ist so kalt.«
Sie verließen den
Parkplatz, wanderten die Straße entlang, tauchten in die kleinen, kopfsteingepflasterten
Gässchen, die das Hafenviertel wie ein Spinnennetz durchzogen. Andenkenläden, Pubs, jede Menge
kleiner Geschäfte, die Schiffsbedarf anboten. Stephen hatte Leslies Arm genommen, und sie ließ
es zu.
„Gwen hat seine Geschichte benutzt«, sagte Leslie,
),und ich kann diese Kälte beinahe nicht fassen. Es ist, als sei er
selbst jetzt noch, auf den letzten Metern seines Lebens, erneut ausgebeutet worden. Für den
Hass und den Rachedurst einer Frau, die sich als benachteiligt und gescheitert empfunden hat.
Wie konnte sie das tun?«
»Wie konnte
Gwen überhaupt das alles tun?«, fragte Stephen. »Fiona umbringen. Chad umbringen. Dann der
Versuch, Dave Tanner zu töten. Dich zu töten. Sie hatte jede Kontrolle über sich verloren.
Unsere Gwen! Die nette, junge Frau mit dem freundlichen Gesicht. Es ist so schwer zu
begreifen.«
»Wir haben
sie nicht wirklich gekannt, Stephen. Wir haben ihre Fassade gesehen, und wenn wir ehrlich sind,
hat sich keiner von uns groß die Mühe gemacht, dahinterzublicken. Nur Jennifer Brankley
vielleicht. Aber das Ausmaß der Gefahr, die dort heranwuchs, konnte wohl auch sie nicht
erkennen.«
»Das hätte
nur jemand gekonnt, der dafür ausgebildet ist«, meinte Stephen. »Wir alle waren damit
überfordert.«
»Trotzdem
frage ich mich, wie ich so blind sein konnte«, sagte Leslie. »Es war so klar vorgestern Abend
in dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Als sie mit mir sprach. Diese seltsame, monotone Stimme.
Diese ausdruckslosen Augen. Ein Mensch ohne jegliche Empathie. Ohne das geringste Gefühl für
andere. Das kann doch nicht nur an dem Abend so gewesen sein!«
»War es
wahrscheinlich auch nicht. Aber perfekt getarnt. Sie war die sanfte, gutmütige, freundliche
Gwen. Und sie war ein hasserfüllter Mensch, der anderen nach dem Leben trachtete. Beides war
sie gleichzeitig. Das ist schwer zu begreifen, aber das gibt es. Und ob wir es verstehen oder
nicht: Wir müssen es einfach akzeptieren.« Ihr Weg hatte sie bis zum
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