Das andere Kind
gebraucht.
Sie lief weiter, ihr letzten Kräfte zusammennehmend.
Sie wusste, dass sie die Einzige war, die immer hinter die Fassade von Gwen Beckett geblickt
hatte, praktisch vom ersten Sommer an, den sie und Colin auf der Beckett-Farm verbracht hatten.
Sie hatte nicht nur die nette, freundliche, etwas naiv und hausbacken wirkende Frau gesehen,
die sich in einem Leben ohne Höhen und Tiefen und mit wenig Perspektiven eingerichtet zu haben
schien und zufrieden wirkte mit dem, was sie umgab: die wunderschöne Landschaft in ihrer Weite
und Freiheit, das Meer in seinen vielen wechselnden Farben, der Himmel, der oft so weit und
hoch wirkte wie nirgendwo sonst, die wilde Steilküste und irgendwo zwischen den Felsen die
kleine Bucht, in die sie sich so gern zurückzog. Der Vater, den sie liebte und umsorgte. Das
verwohnte, aber behagliche Haus. Ein Leben jenseits der Welt. Das, was Menschen dann und wann
suchten, wenn der Stress des Alltags, die Sorgen, die Hetzerei, die Probleme überhandnahmen.
Gwen hatte dies für immer gepachtet. Wer nicht allzu weit dachte, mochte sie sogar
beneiden.
Aber Jennifer sah tiefer, so ging es ihr häufig und war Teil der ausgeprägten Fähigkeit zur
Empathie, mit der sie gesegnet - oder verflucht war. Sie wusste selbst oft nicht recht, ob sie
sich darüber freuen oder ob sie hadern sollte. Sie sah die Wut, die Gwen erfüllte. Die Trauer.
Den namenlosen Zorn. Den Schmerz. Die Verzweiflung. Sie sah das dahinwelkende Leben, das nie
aufgeblüht war, sie sah das Leid, das daraus erwuchs, und sie sah die unzähligen ungeweinten
Tränen, die sich in Gwen stauten angesichts der unfassbaren Gleichgültigkeit, die sie umgab.
Der geliebte Vater, der nichts merkte. Weil es ihn nicht interessierte. Und Fiona, die ihre
Finger nicht von der kleinen Familie lassen konnte und deren als Fürsorge getarnte
Besessenheit, mit der sie an Chad Beckett festhielt, längst von Gwen entlarvt worden war. Auch
Fiona war an Gwen im Grunde nicht interessiert gewesen. Jennifer hielt es sogar für möglich,
dass Fionas Attacke gegen Dave Tanner am Verlobungsabend keineswegs dem Gedanken entsprungen
war, Gwen könne sich mit diesem Mann ins Unglück stürzen, sondern vielmehr ihrer Sorge, wie es
um Chad bestellt sein mochte, wenn ein wesentlich jüngerer, zielbewusster Mann plötzlich das
Sagen auf der Farm übernahm. Egal, was sie beteuert hatte: Jennifer hatte es Fiona nie
abgenommen, dass ihr an Gwens Schicksal gelegen war.
Und manchmal hatte sie gedacht: Was wird sein, wenn es sich einen Weg bahnt? Alles das, was in
Gwen seit Jahren und Jahrzehnten verkapselt und verschlossen ist. All die Wut, all der Hass ...
Was wird sein, wenn der Druck zu groß wird? Und sie hatte immer Angst gespürt bei diesem
Gedanken. Trotzdem war ein Mord so unfassbar, so jenseits alles Vorstellbaren, dass Jennifer
die Angst mit aller Kraft verdrängt hatte. Und das Bedürfnis, die andere zu schützen, war
gewachsen, je näher sie die Bekanntschaft von Detective Inspector Almond gemacht hatte. Sie
hatte gewusst, diese Frau würde sich auf jedes kleine Häppchen stürzen, das man ihr zuwarf, wie
ein ausgehungerter Hund. Auch hier hatte sie tiefer gesehen als Colin und die anderen: Almond
mochte energisch, kompetent und selbstsicher auftreten. Hinter dieser Maske verbarg sich eine
von Selbstzweifeln und Ängsten heimgesuchte Frau. Eine nervöse Polizeibeamtin, die der
Tatsache, dass sie es beruflich bereits weit gebracht hatte, selbst nicht traute. Die von dem
Gedanken an höhere Sprossen auf der Karriereleiter auf ungesunde Weise getrieben wurde. Die
zutiefst fürchtete, am Mordfall Barnes zu scheitern. Jennifer hatte ihre Vibrationen gespürt.
Die Frau war mit den Nerven ziemlich am Ende. Halte ihr Gwen hin, und sie wird sich in sie
verbeißen und nie wieder loslassen. Ganz gleich, ob Gwen in irgendeiner Weise verstrickt ist
oder nicht.
Das, so hatte sie sich gesagt, kann ich Gwen nicht antun. Vielleicht mündete ihr Schweigen nun
in eine Tragödie. Sie hatte den höchsten Punkt des langgestreckten Hügels erreicht. Es war von
hier nicht mehr weit bis zur Hängebrücke und zur Schlucht. Der schwierigste Teil des Wegs lag
vor ihr. Sie durfte nun nicht mehr nur daran denken, möglichst schnell voranzukommen. Sie
musste auch ihre eigene Sicherheit im Auge haben. Es half niemandem, wenn sie sich den
Fuß brach. Und dabei dachte sie: Ein gebrochener Fuß ... Als ob du nicht wüsstest, dass
dir
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