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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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sich die
    Frage einfach auf.
    Die Frau hatte sein Herannahen nicht bemerkt und
    fuhr erschrocken zusammen. Sie drehte sich zu ihm um, und er erkannte seinen Irrtum: Sie war
    nicht Anfang zwanzig, sondern mindestens Mitte dreißig, vielleicht sogar älter. Sie sah
    sympathisch aus, aber völlig unscheinbar. Ein blasses, ungeschminktes Gesicht, nicht schön,
    nicht hässlich, sondern von der Art, die man sich kaum länger als zwei Minuten merken konnte.
    Die Haare ziemlich lieblos aus der hohen Stirn gestrichen. Sie verkörperte offenbar nicht
    bewusst einen bestimmten Typ, mit dem sie sich von der Masse absetzen wollte, sondern hatte
    einfach nicht die geringste Ahnung, was sie hätte tun können, um attraktiver und anziehender
    auszusehen.
    Ein nettes, schüchternes Ding, urteilte er, und
    vollkommen uninteressant. »Ich hätte wissen müssen, dass es ein Gewitter gibt«, sagte sie.
    »Aber als ich heute Mittag loszog, war es so heiß, dass mir ein Schirm lächerlich vorgekommen
    wäre.« »Wohin müssen Sie denn?«, fragte er.
    »Eigentlich nur zur Bushaltestelle Queen Street.
    Aber bis ich dort ankomme, bin ich patschnass.«
    »Wann geht Ihr Bus?«
    »In fünf Minuten«, sagte sie kläglich, »und es
    ist der letzte heute.«
    Offenbar lebte sie in einem der Bauernkäffer rund
    um Scarborough. Es war erstaunlich, wie schnell man auf dem Land war, kaum dass man die
    Stadtgrenze verlassen hatte. Man befand sich dann ohne großen Übergang in der Mitte von
    nirgendwo, in Dörfern, die nur aus wenigen, weit verstreut liegenden Farmen bestanden und über
    eine jämmerliche Verkehrsanbindung verfügten. Der letzte Bus um kurz vor 18 Uhr! Junge Leute
    mussten sich da wie in der Steinzeit fühlen.
    Wäre sie jung und schön gewesen, er hätte keine
    Sekunde gezögert, ihr seine Hilfe anzubieten. Sie mit dem Auto nach Hause zu bringen. Vorher
    hätte er sie gefragt, ob sie mit ihm etwas trinken wolle, irgendwo unten am Hafen in einem der
    vielen Pubs. Er hatte erst für den späteren Abend eine Verabredung, an der ihm ohnehin nicht
    allzu viel lag, und er hatte wenig Lust, sich bis dahin in dem Zimmer zu langweilen, das er in
    einem Haus am Ende der Straße zur Untermiete bewohnte.
    Die Vorstellung, diesem ältlichen Mädchen - denn
    das war ihre Ausstrahlung: ein ältliches Mädchen - in einer Kneipe bei einem Glas Wein
    gegenüberzusitzen und einen Abend lang das farblose Gesicht zu betrachten, hatte allerdings
    absolut nichts Verlockendes.
    Wahrscheinlich war sogar das Fernsehprogramm
    unterhaltsamer. Trotzdem zögerte er, sie einfach stehen zu lassen und an ihr vorbei über den
    Schulhof und dann die Straße hinaufzusprinten. Sie wirkte so ... verlassen. »Wo wohnen Sie
    denn?«
    »In Staintondale«, sagte sie.
    Er verdrehte die Augen. Er kannte Staintondale,
    großer Gott! Eine Landstraße, eine Kirche, ein Postamt, in dem man auch die notwendigsten
    Grundnahrungsmittel sowie ein paar Zeitschriften kaufen konnte. Einige Häuser. Eine rote
    Telefonzelle, die zugleich als Bushaltestelle fungierte. Und Farmen, die ringsum hier und da
    wie in die Landschaft geworfen wirkten.
    »Von der Haltestelle in Staintondale haben Sie
    sicher noch ein gutes Stück zu laufen«, vermutete er.
    Sie nickte unglücklich. »Fast eine halbe Stunde,
    ja.«
    Er hatte nun einmal den Fehler begangen, sie
    anzusprechen. Er hatte den Eindruck, dass sie seine Enttäuschung gespürt hatte, und etwas sagte
    ihm, dass dies eine schmerzlich vertraute Situation für sie sein musste. Es mochte ihr öfter
    passieren, dass sie männliche Aufmerksamkeit auf sich zog, dass diese aber sofort erlosch, kaum
    dass ein Mann ihr dann tatsächlich näher kam. Vielleicht ahnte sie, dass er ihr Unterstützung
    angeboten hätte, wäre sie nur ein wenig interessanter gewesen, und mit einiger Sicherheit ging
    sie bereits davon aus, dass daraus nun nichts wurde.
    »Wissen Sie was«, sagte er schnell, ehe sein
    Egoismus und seine Bequemlichkeit über eine Anwandlung von Gutherzigkeit siegen konnten, »mein
    Wagen parkt nur ein kleines Stück die Straße hinauf. Wenn Sie mögen, fahre ich Sie rasch nach
    Hause.«
    Sie starrte ihn ungläubig an. »Aber ... das ist
    nicht ganz nah ... Staintondale ist ... «
    »Ich kenne den Ort«, unterbrach er sie, »aber ich
    habe in den nächsten Stunden nichts weiter vor, und eine Fahrt aufs Land ist nicht das
    Schlechteste.«
    »Bei dem Wetter ... «, meinte sie
    zweifelnd.
    Er lächelte. »Ich würde Ihnen raten, mein

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