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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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sie.
    Der Größte. Der Beste. Kein Mann kann ihm das Wasser reichen.
    Er mutmaßte, dass
    sie bewusst oder unbewusst alles daransetzte, Daddys Traumto chter
    zu sein. Mit dem dicken, blonden Zopf und dem altmodischen
    Blumenkleid verkörperte sie den Frauentyp aus Daddys Jugend, die in den fünfziger oder frühen
    sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stattgefunden haben mochte. Sie wollte ihm
    gefallen, und wahrscheinlich stand er nicht auf Miniröcke, auffallendes Make-up oder kurz
    geschnittene Haare. Zugleich blieb sie in ihrer Ausstrahlung vollkommen
    asexuell.
    Im Bett will sie den Alten
    wahrscheinlich nicht unbedingt haben, dachte er. Er hatte feine Sensoren und konnte spüren,
    dass sie sich den Kopf über einen Themenwechsel zerbrach, und er kam ihr entgegen.
    »Ich unterrichte übrigens an
    der Friarage School«, sagte er, »aber nicht die Kinder. Die Schule stellt ihre Räume abends und
    an manchen Nachmittagen für die Erwachsenenbildung zur Verfügung. Ich gebe Kurse in Französisch
    und Spanisch, und damit halte ich mich so leidlich über Wasser.«
    »Sie sprechen diese Sprachen
    wohl sehr gut?«
    »Ich habe
    als Kind sowohl in Spanien als auch in Frankreich längere Zeit gelebt. Mein Vater war
    Diplomat.« Er wusste, dass in seiner Stimme keine Wärme mitschwang bei der Erwähnung seines Vaters. Er musste sich eher Mühe
    geben, nicht zu viel Hass erkennbar werden zu lassen. »Aber ich sage Ihnen, es ist kein
    Vergnügen, einer Gruppe total unbegabter Hausfrauen Sprachen beibringen zu müssen, deren Klang
    und Ausdruckskraft man liebt und deren völlige Verunstaltung man an drei oder vier Abenden in
    der Woche ertragen muss.« Er lachte verlegen, als ihm aufging, dass er womöglich in ein
    Fettnäpfchen getreten war.
    »Entschuldigen Sie.
    Vielleicht nehmen Sie ja selbst an einem Sprachkurs teil und fühlen sich nun angegriffen? Es
    gibt noch drei Kolleginnen, die Kurse veranstalten.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Obwohl es nicht sehr hell war im Auto wegen der Wand aus Regen draußen, konnte er erkennen,
    dass sich ihre Wangen gerötet hatten.
    »Nein«, sagte sie, »ich nehme nicht an einem Sprachkurs
    teil. Ich ... «
    Sie sah ihn nicht
    an, sondern starrte aus dem Fenster. Sie hatten die Straße erreicht, die aus Scarborough in
    nördlicher Richtung hinausführte. Reihenhausketten und Supermärkte glitten draußen vorüber,
    Autowerkstätten und trist wirkende Pubs, ein Wohnwagenpark, der in den Fluten zu versinken
    schien.
    »Ich hatte in der
    Zeitung davon gelesen«, sagte sie leise, »dass in der Friarage School ... Nun, es wird
    mittwochnachmittags ein Kurs angeboten, der ... für die nächsten drei Monate ... « Sie
    zögerte.
    Schlagartig begriff
    er, wovon sie sprach. Er verstand nicht, weshalb ihm das nicht sofort klar gewesen war.
    Schließlich war er ein Teil des Lehrkörpers dort. Er kannte das neue Angebot. Mittwochs. Von
    halb vier bis halb sechs. Heute zum ersten Mal. Und diese Gwendolyn Beckett passte wie die
    Faust aufs Auge in das Profil potenzieller Kursteilnehmer.
    »Oh, ich weiß«,
    sagte er und bemühte sich, völlig gleichgültig zu klingen. So, als sei es das Normalste der
    Welt, an einem Kurs für ... ja, was? Versager? Nieten? Verlierer? ... teilzunehmen. »Geht es
    nicht um ... eine Art Selbstbehauptungstraining?«
    Er konnte ihr
    abgewandtes Gesicht nun überhaupt nicht mehr erkennen, vermutete aber, dass sie puterrot
    geworden war.
    »Ja«, antwortete
    sie leise. »Darum geht es. Man soll lernen, seine Schüchternheit zu besiegen. Auf andere
    Menschen zuzugehen. Seine ... Ängste zu beherrschen.« Jetzt wandte sie sich ihm zu. »Das klingt
    für Sie bestimmt völlig idiotisch.«
    »Gar nicht«,
    versicherte er. »Wenn man glaubt, irgendwo ein Defizit zu haben, sollte man das angehen. Das
    ist jedenfalls sinnvoller, als untätig herumzusitzen und zu jammern. Machen Sie sich keine
    Gedanken. Versuchen Sie einfach, das Beste aus diesem Kurs herauszuholen.«
    »Ja«, sagte sie und
    klang ziemlich verzagt. »Das werde ich. Wissen Sie ... es ist nicht so, dass ich besonders
    glücklich bin in meinem Leben.«
    Sie wandte sich
    wieder zum Fenster, und er wagte nicht, genauer nachzufragen.
    Sie
    schwiegen.
    Der Regen ließ ein
    wenig nach.
    Als sie am Ortskern
    von Cloughton in Richtung Staintondale abbogen, riss der Himmel fast schlagartig auf.
    Abendsonne brach durch die Wolken.
    Er fühlte sich
    urplötzlich angespannt. Aufgeregt. Wachsam. Da war eine Ahnung, dass

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