Das andere Kind
Kleinen?«, rief Miss Taylor.
Können Sie ihn zu Ihrer Freundin mitnehmen?«, fragte meine Mutter.
»Auf keinen Fall. Die arbeitet auch den ganzen Tag. Keiner von uns kann sich um ihn
kümmern.«
»Hat er Verwandte?«
Miss Taylor schüttelte den Kopf. »Ich habe mich ja manchmal mit Mrs. Somerville unterhalten.
Sie wollte immer gern von ihrem Mann weg, aber sie sagte, es gebe niemanden mehr, der zu ihnen
gehörte und zu dem sie gehen könnte. Ich fürchte, Brian ... steht jetzt allein in der
Welt.«
»Dann müssen Sie ihn beim Roten Kreuz abgeben«, riet Mum und schaute den blassen Jungen
mitleidsvoll an. »Armer Kerl!«
»a Gott, a Gott«, jammerte Miss Taylor. Sie
schien mit der Situation völlig überfordert.
Und dann tat meine Mutter etwas, das in seinen Auswirkungen schicksalhaft
werden sollte, etwas, das eigentlich gar nicht zu ihr passte, denn sie war im Grunde kein
hilfsbereiter Mensch, und sie sagte immer, wir hätten genug damit zu tun, unsere eigenen Köpfe
über Wasser zu halten, wir kö nnten es uns nicht leisten, uns der Probleme anderer Menschen auch noch
anzunehmen.
»Kommen Sie, ich nehme ihn mit«, sagte sie. »Ich bringe gerade Fiona zum Bahnhof, sie wird aufs
Land evakuiert. Bestimmt treffe ich dort jemanden, der mir helfen kann, sicher auch die eine
oder andere Schwester vom Roten Kreuz. Dann kann ich Brian übergeben.«
Miss Taylor sah aus, als wolle sie meiner Mutter am liebsten um den Hals fallen. Ehe sie sich's
versah, hatte Mum zwei Kinder an ihrer Seite: ihre eigene elf jährige Tochter im zu dünnen
Sommerkleid und mit einem Pappkoffer in der Hand und einen etwa achtjährigen Jungen in
schmutzstarrenden Hosen und einem sackähnlichen Wollpullover, der, nach seinem abgetragenen
Zustand zu schließen, schon ganzen Generationen von Kindern als eine Art Allzweckkleidungsstück
gedient haben musste. Der Junge bewegte sich wie in Trance. Er schien nichts von dem
mitzubekommen, was um ihn herum vorging.
In dieser Formation langten wir schließlich am Bahnhof an, und zwar, wie sich herausstellte, in
allerletzter Minute. Entweder hatte sich Mum vertan, was die Abfahrtszeit des Zuges anging,
oder wir hatten zu sehr getrödelt, oder der unendlich langsam dahintrottende Brian hatte uns
aufgehalten. Auf jeden Fall befanden sich die meisten Kinder schon im Zug, hingen in Trauben an
den Fenstern und winkten ihren Eltern zu, die auf dem Bahnsteig standen. Viele weinten. Manche
Mütter sahen aus, als wären sie am liebsten in die Abteile geklettert, und etliche Kinder
schrien, sie wollten wieder aussteigen und zu Hause bleiben. Alle hatten sie kleine Schilder
angesteckt, auf denen ihr Name stand. Rot-Kreuz-Schwestern und andere Helfer mit Klemmbrettern
und Listen in den Händen eilten geschäftig hin und her und versuchten, in dem Chaos irgendwie
den Überblick zu behalten.
Einer der Helferinnen, einer Rot-Kreuz-Schwester, trat Mum entschlossen in den Weg.
»Entschuldigen Sie bitte. Meine Tochter ist auch für die Reise angemeldet.«
Die Schwester war groß und kräftig und hatte ein so unfreundliches Gesicht, dass mir ganz
ängstlich zumute wurde. »Da sind Sie aber früh dran! «, blaffte sie. »Name?«
»Swales. Fiona Swales.«
Die Schwester suchte auf ihrer Liste und machte dann einen Haken, vermutlich hinter meinem
Namen. Sie angelte ein kleines Pappschild unter ihrem Klemmbrett hervor.
»Da schreiben Sie den Namen Ihrer Tochter drauf. Und das Geburtsdatum. Und die Adresse, unter
der Sie hier in London leben.«
Mum kramte einen Bleistift aus ihrer Handtasche und ging in die Hocke, um das auf ihren Knien
liegende Schild zu beschriften. Die Schwester starrte Brian an. »Und was ist mit ihm? Kommt der
auch mit?« Brian griff ängstlich nach meiner Hand. Er tat mir leid, und so zog ich sie nicht
weg, obwohl ich das gern getan hätte. »Nein«, sagte meine Mutter, »er ist ein Waisenkind. Ich
weiß nicht, wohin mit ihm.«
»Und woher soll ich das wissen?«
Mum richtete sich wieder auf und befestigte das Schild am Revers meiner Jacke. »Sie sind doch
vom Roten Kreuz!« »Aber ich betreue hier keine Waisenkinder! Sehen Sie nicht, was ich alles zu
tun habe?« Und mit diesen Worten eilte sie auch schon weiter, um ein kleines Mädchen
anzuschnauzen, das gerade heulend versuchte, aus dem Zug wieder auszusteigen, und das dabei
laut nach seiner Mutter schrie.
»Du musst in den Zug, Fiona«, drängte Mum nervös.
Brian klammerte sich mit beiden Händen an
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