Das andere Kind
sahen, dass Rauch aus
den Trümmern emporstieg. Das Haus musste den Kampf gegen die Bomben erst während einer der
letzten Nächte verloren haben. Wir hatten die Familien, die in dem Haus lebten, oberflächlich
gekannt, so wie man si ch eben kennt, wenn man wenige Meter voneinander entfernt in derselben Straße wohnt. Man konnte die
Gesichter zuordnen, grüßte einander, wusste auch ein wenig über die Lebensumstände Bescheid,
kannte aber keine allzu genauen Details. Im ersten Stock hatte eine Familie Somerville gewohnt,
Vater, Mutter und sechs Kinder. Mit der zweitältesten Tochter hatte ich manchmal gespielt, aber
nur dann, wenn ich mich langweilte und sonst niemanden fand. Die Somervilles galten als
asozial, und obwohl niemand in Gegenwart von Kindern über so etwas sprach, hatte ich manches
aufgeschnappt. Mr. Somerville trank, und zwar viel schlimmer, als mein eigener Daddy es getan
hatte, nämlich von morgens bis abends, man konnte ihn zu keinem Moment des Tages nüchtern
antreffen. Er misshandelte seine Frau, was dazu geführt hatte, dass Mrs. Somerville, die
ebenfalls angeblich mehr trank, als ihr gut tat, mit einer grotesk schiefen Nase herumlief, die
bei einer Schlägerei mit ihrem Ehemann gebrochen und dann völlig falsch zusammengewachsen war.
Er misshandelte auch seine Kinder. Es hieß, einige von ihnen seien schwachsinnig, weil er sie
zu oft auf den Kopf schlug, und überdies hätte ihnen der ausgiebige Alkoholkonsum ihrer Mutter
während der Schwangerschaften schwer geschadet. Wie auch immer, man fürchtete stets, selbst ein
wenig ins Zwielicht zu geraten, wenn man sich zu intensiv mit den Somervilles einließ, und
daher hatte auch ich den Kontakt zu den Kindern so gering wie möglich
gehalten.
Wir standen für einen Moment vor den rauchenden Trümmern und fragten uns
beklommen, was aus all den Menschen geworden war, die hier gelebt hatten, als aus dem
Nachbarhaus, dessen Erdgeschoss noch zu einem kleinen Teil vorhanden, zumindest überdacht war,
die junge Miss Taylor herauskam. Sie stammte aus einem Dorf in Devon und war nach London
gekommen, um ihr Glü ck zu machen. Sie arbeitete in einer Wäscherei. An der Hand führte sie einen kleinen Jungen, in dem ich
Brian Somerville erkannte, eines der vielen Somerville-Kinder. Er war sieben oder acht Jahre
alt und galt als äußerst unterbelichtet.
Miss Taylor war kreideweiß im Gesicht.
»Das war ein Inferno in den letzten drei Nächten«, klagte sie, und ich sah, dass ihre Lippen
heftig zitterten. »Es war ... ich dachte ... « Sie strich sich mit der freien Hand über die
Stirn, die trotz des kalten Morgens nass war von Schweiß. Mum sagte später, sie hätte unter
einem Schock gestanden.
»Ich werde jetzt versuchen, bei einer Freundin unterzukriechen«, erklärte sie, »sie wohnt ein
wenig außerhalb, und ich hoffe, da bomben sie nicht so heftig. In meiner Ruine wird es jetzt
sowieso zu kalt. Und ich halte das alles nicht mehr aus. Ich halte es nicht aus!« Sie begann zu
weinen.
Meine Mutter wies auf den kleinen Brian, der uns aus riesigen, erschrockenen Augen
anstarrte.
»Was ist mit ihm? Wo sind seine Eltern?«
Miss Taylor schluchzte heftig. »Tot. Alle tot. Auch die Geschwister. Alle.«
»Alle?«, rief Mum schockiert. »Sie haben sie ausgegraben«, flüsterte Miss Taylor, der vermutlich gerade aufging, welche Auswirkungen dieses Gespräch auf das
ohnehin traumatisierte Kind an ihrer Hand haben konnte. »Gestern, den ganzen Tag über. Alle,
die in dem Haus gewohnt haben ... oder zumindest das, was von ihnen ... noch übrig war.
Vorletzte Nacht ist das Haus getroffen worden. Sie sagten, niemand kann überlebt
haben.«
Mum presste entsetzt die Hand auf den Mund.
»Und letzte Nacht tauchte er plötzlich bei mir auf.« Miss Taylor machte eine Kopfbewegung zu
Brian hin. »Brian. Ich weiß nicht, woher er kam. Es ist kein Wort aus ihm herauszubringen.
Entweder er war auch verschüttet, hat es aber überlebt und sich selbst befreien können, oder er
war in der Nacht gar nicht daheim. Sie wissen ja ... «
Wir wussten. Manchmal, wenn Mr. Somerville total blau war, ließ er einfach seine Kinder nicht
mehr in die Wohnung. Oft hatte eines von ihnen bei Nachbarn Unterschlupf gesucht, und in
Sommernächten hatten sie manchmal auch auf der Straße kampiert. Als ich noch jünger und dümmer
gewesen war, hatte ich sie gelegentlich um die Freiheit beneidet, in der sie lebten.
»Wohin soll ich denn jetzt mit dem
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