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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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Aufnahmegebiet, aber die kleinen Orte ringsum hatte man freigegeben, da
    deren Kapazitäten dringend gebraucht wurden.
    Niemand kontrollierte unseren Einstieg, niemandem fiel auf, dass der kleine Junge an meiner
    Hand weder Namensschild noch Gepäck hatte. Man drängte uns zur Eile, daher wagte ich es nicht,
    einen der Erwachsenen anzusprechen. Es mag seltsam anmuten, dass ich so gar nicht in der Lage
    war, vernünftig zu agieren, aber man muss bedenken, wie verängstigt und unsicher ich mich
    fühlte.
    Als wir aus der Stadt hinaus auf die Landstraße rollten, herrschte völlige Stille im Bus, bis
    auf das leise Weinen zweier kleiner Mädchen, die vergeblich versuchten, ihr Schluchzen zu
    unterdrücken. Niemand sagte etwas. Alle fürchteten sich. Waren müde und hungrig. Ich glaube,
    den meisten ging es wie mir: Man hatte Angst, in Tränen auszubrechen, wenn man den Mund
    aufmachte.
    Ich drückte mein Gesicht an die Scheibe. Schemenhaft konnte ich noch etwas von der Landschaft
    erkennen. Keine Häuser. Hügeliges Land, wenige Bäume. Irgendwo musste das Meer sein. Ich war
    sehr weit weg von London.
    Der Bus hielt unvermittelt am Straßenrand, und als die Anweisung zum Aussteigen erging, war ich
    verwirrt. Hier? Mitten im Nirgendwo? Zwischen Wiesen und Weiden - sollten wir die Nacht auf
    irgendeinem Acker verbringen?
    Nachdem wir aber ausgestiegen waren und uns erneut in der obligatorischen Zweierreihe
    aufgestellt hatten, sah ich in einiger Entfernung einen Lichtschein, und je näher wir uns
    darauf zu bewegten, desto deutlicher schälten sich die Umrisse einiger Gebäude aus der Nacht.
    Zwei oder drei einstöckige Häuser, die hier wie hingewürfelt mitten im Nichts zu stehen
    schienen. Immerhin verhießen sie Helligkeit und vor allem Wärme - es war unangenehm kalt
    geworden, und ich fror erbärmlich in meinem Sommerkleid mit Strickjacke und rutschenden
    Strümpfen.
    Vor den Gebäuden angelangt, mussten wir stehen bleiben. Es schien sich um einen winzig kleinen
    Gemischtwarenladen zu handeln, soweit ich das erkennen konnte, und um zwei Wohnhäuser daneben.
    Eine der Schwestern wies uns an, draußen zu warten, und wir verteilten uns über eine Wiese, die
    dem Laden gegenüberlag. Obwohl wir nicht weit gelaufen waren, setzten sich die meisten sogleich
    in das stoppelkurze Gras, das bereits von der Feuchtigkeit der Nacht bedeckt war. Wir waren
    alle erschöpft. Erschöpft von unserer Angst.
    Ich hielt die Kälte fast nicht mehr aus, öffnete meinen kleinen Koffer, kramte den Pullover mit
    den zu kurzen Ärmeln hervor und streifte ihn mir über den Kopf. Außerdem zog ich ein Paar der
    Strümpfe, die Mum mir gestrickt hatte, über meine anderen Strümpfe, in der Hoffnung, so meine
    eiskalten Füße ein wenig wärmen zu können. Ich sah, dass Brian überhaupt keine Strümpfe
    anhatte, und opferte widerstrebend mein zweites neues Paar für ihn. Sie waren ihm zu groß, aber
    da er auch seine Schuhe nicht ausfüllte - ich vermutete, er hatte sie von einem seiner älteren
    Brüder geerbt, und wie ich die Somervilles einschätzte, war auf die Passform nicht im Mindesten
    geachtet worden -, konnten wir die überstehende Wolle unterbringen. Zum ersten Mal, seit wir
    London verlassen hatten, wandte er den Blick von mir ab. Er betrachtete die Strümpfe, strich
    mit einem fast andächtigen Gesichtsausdruck wieder und wieder darüber.
    »Hör mal, die sind nicht geschenkt! Ich will sie zurückhaben!«,
    warnte ich ihn. Er hörte nicht auf, die Wolle zu streicheln. Die Tür des kleinen Ladens öffnete
    sich, ebenso die Türen der daneben befindlichen Gebäude, und eine Menge erwachsener Menschen
    strömte ins Freie. Sie alle schienen aufgeregt und erbost und redeten hektisch auf unsere
    Begleiterinnen ein. Nach allem, was ich aufschnappen konnte, waren sie wütend über unser
    verspätetes Eintreffen, hatten viel früher mit der Ankunft des Zuges in Scarborough und damit
    mit unserem Erscheinen gerechnet und ärgerten sich, dass sie den halben Tag wartend in dieser
    Einöde hatten verbringen müssen.
    Ein Mädchen, das neben mir saß, stieß mich mit dem Ellbogen an. »Das sind die Familien, zu
    denen wir kommen«, zischte sie, »die Pflegefamilien !«
    »Das habe ich mir schon gedacht«, gab ich etwas hochnäsig zurück. Sie musterte mich mit einem
    kurzen Seitenblick. »Ich werde von meiner Tante aufgenommen. Und du?« »Ich weiß nicht, von
    wem.« Jetzt war ihr Blick mitfühlend. »Du Ärmste!«
    »Wieso?«, wollte ich wissen.

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