Das andere Kind
Aufnahmegebiet, aber die kleinen Orte ringsum hatte man freigegeben, da
deren Kapazitäten dringend gebraucht wurden.
Niemand kontrollierte unseren Einstieg, niemandem fiel auf, dass der kleine Junge an meiner
Hand weder Namensschild noch Gepäck hatte. Man drängte uns zur Eile, daher wagte ich es nicht,
einen der Erwachsenen anzusprechen. Es mag seltsam anmuten, dass ich so gar nicht in der Lage
war, vernünftig zu agieren, aber man muss bedenken, wie verängstigt und unsicher ich mich
fühlte.
Als wir aus der Stadt hinaus auf die Landstraße rollten, herrschte völlige Stille im Bus, bis
auf das leise Weinen zweier kleiner Mädchen, die vergeblich versuchten, ihr Schluchzen zu
unterdrücken. Niemand sagte etwas. Alle fürchteten sich. Waren müde und hungrig. Ich glaube,
den meisten ging es wie mir: Man hatte Angst, in Tränen auszubrechen, wenn man den Mund
aufmachte.
Ich drückte mein Gesicht an die Scheibe. Schemenhaft konnte ich noch etwas von der Landschaft
erkennen. Keine Häuser. Hügeliges Land, wenige Bäume. Irgendwo musste das Meer sein. Ich war
sehr weit weg von London.
Der Bus hielt unvermittelt am Straßenrand, und als die Anweisung zum Aussteigen erging, war ich
verwirrt. Hier? Mitten im Nirgendwo? Zwischen Wiesen und Weiden - sollten wir die Nacht auf
irgendeinem Acker verbringen?
Nachdem wir aber ausgestiegen waren und uns erneut in der obligatorischen Zweierreihe
aufgestellt hatten, sah ich in einiger Entfernung einen Lichtschein, und je näher wir uns
darauf zu bewegten, desto deutlicher schälten sich die Umrisse einiger Gebäude aus der Nacht.
Zwei oder drei einstöckige Häuser, die hier wie hingewürfelt mitten im Nichts zu stehen
schienen. Immerhin verhießen sie Helligkeit und vor allem Wärme - es war unangenehm kalt
geworden, und ich fror erbärmlich in meinem Sommerkleid mit Strickjacke und rutschenden
Strümpfen.
Vor den Gebäuden angelangt, mussten wir stehen bleiben. Es schien sich um einen winzig kleinen
Gemischtwarenladen zu handeln, soweit ich das erkennen konnte, und um zwei Wohnhäuser daneben.
Eine der Schwestern wies uns an, draußen zu warten, und wir verteilten uns über eine Wiese, die
dem Laden gegenüberlag. Obwohl wir nicht weit gelaufen waren, setzten sich die meisten sogleich
in das stoppelkurze Gras, das bereits von der Feuchtigkeit der Nacht bedeckt war. Wir waren
alle erschöpft. Erschöpft von unserer Angst.
Ich hielt die Kälte fast nicht mehr aus, öffnete meinen kleinen Koffer, kramte den Pullover mit
den zu kurzen Ärmeln hervor und streifte ihn mir über den Kopf. Außerdem zog ich ein Paar der
Strümpfe, die Mum mir gestrickt hatte, über meine anderen Strümpfe, in der Hoffnung, so meine
eiskalten Füße ein wenig wärmen zu können. Ich sah, dass Brian überhaupt keine Strümpfe
anhatte, und opferte widerstrebend mein zweites neues Paar für ihn. Sie waren ihm zu groß, aber
da er auch seine Schuhe nicht ausfüllte - ich vermutete, er hatte sie von einem seiner älteren
Brüder geerbt, und wie ich die Somervilles einschätzte, war auf die Passform nicht im Mindesten
geachtet worden -, konnten wir die überstehende Wolle unterbringen. Zum ersten Mal, seit wir
London verlassen hatten, wandte er den Blick von mir ab. Er betrachtete die Strümpfe, strich
mit einem fast andächtigen Gesichtsausdruck wieder und wieder darüber.
»Hör mal, die sind nicht geschenkt! Ich will sie zurückhaben!«,
warnte ich ihn. Er hörte nicht auf, die Wolle zu streicheln. Die Tür des kleinen Ladens öffnete
sich, ebenso die Türen der daneben befindlichen Gebäude, und eine Menge erwachsener Menschen
strömte ins Freie. Sie alle schienen aufgeregt und erbost und redeten hektisch auf unsere
Begleiterinnen ein. Nach allem, was ich aufschnappen konnte, waren sie wütend über unser
verspätetes Eintreffen, hatten viel früher mit der Ankunft des Zuges in Scarborough und damit
mit unserem Erscheinen gerechnet und ärgerten sich, dass sie den halben Tag wartend in dieser
Einöde hatten verbringen müssen.
Ein Mädchen, das neben mir saß, stieß mich mit dem Ellbogen an. »Das sind die Familien, zu
denen wir kommen«, zischte sie, »die Pflegefamilien !«
»Das habe ich mir schon gedacht«, gab ich etwas hochnäsig zurück. Sie musterte mich mit einem
kurzen Seitenblick. »Ich werde von meiner Tante aufgenommen. Und du?« »Ich weiß nicht, von
wem.« Jetzt war ihr Blick mitfühlend. »Du Ärmste!«
»Wieso?«, wollte ich wissen.
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