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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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mir fest.
    »Er lässt mich nicht los, Mummie«, sagte ich, überrascht von der Kraft, die in Brians kleinen
    Händen steckte.
    Meine Mutter versuchte, Brian von mir zu lösen. Der Schaffner pfiff. Ehe ich mich's versah,
    wurden wir von einer Menschenwoge zu den Waggons geschoben und gedrängt. Kinder, die sich noch
    nicht hatten losreißen können, Eltern, die noch einmal durch die Fenster greifen und die Hände
    oder die Wangen ihrer Kinder berühren wollten. Es waren herzzerreißende Abschiede, die um mich
    herum stattfanden. Ich war fest entschlossen, mich daran nicht zu beteiligen. Ich war böse auf
    Mum, weil sie mich wegschickte, und ich war sicher, dass ich ihr diesen Schritt nie würde
    verzeihen können. Ich war direkt vor den eisernen Gitterstufen angelangt, die in den Zug
    führten. Brian hing unnachgiebig an meiner Hand, obwohl ich inzwischen ziemlich energisch und
    rabiat versuchte, ihn abzuschütteln. Hinter mir drängte eine Wand von Menschen.
    Ich drehte mich um. »Mummie!«, schrie ich.
    Ich hatte sie im Gewühl verloren. Von irgendwoher vernahm ich ihre Stimme, aber sehen konnte ich sie nicht.
    »Steig ein, Fiona! Steig ein!«
    »Brian lässt mich nicht los!«, brüllte ich.
    Ein Vater, der direkt
    hinter uns stand, hob seine kleine Tochter hoch und schob sie in den Waggon. Dann packte er mit
    dem einen Arm mich, mit dem anderen Brian, und in Sekundenschnelle waren wir ebenfalls im
    Zug.
    »Türen schließen!«, schrie der Schaffner. Ich drängte den Gang entlang, Brian, der mich nicht
    einen Moment lang losließ, hinter mir her ziehend.
    Gut gemacht, Mummie! Jetzt kann ich sehen, wie ich ihn wieder loswerde!
    »Du bist unmöglich!«, schnauzte ich ihn an. »Du darfst gar nicht hier sein! Dich schicken sie
    sofort wieder zurück!«
    Er starrte mich aus riesigen Augen an. Mir fiel auf, wie weiß seine Haut war und wie deutlich
    man das Geflecht zartblauer Adern an seinen Schläfen erkennen konnte.
    Er hatte kein Schild, keinen Koffer, keine Gasmaske. Er stand auf keiner Liste. Sie würden ihn
    im Handumdrehen zurückbefördern. Meine Schuld war das nicht. Ich konnte nichts dafür, dass der
    fremde Vater ihn einfach in den Zug gehoben hatte.
    Ich fand noch einen freien Sitzplatz auf einer der Holzbänke und drängte mich neben die anderen
    Kinder. Brian versuchte auf meinen Schoß zu klettern, aber ich stieß ihn zurück. Schließlich
    blieb er neben mir stehen.
    »Sei doch nicht so unfreundlich zu deinem kleinen Bruder«, wies mich ein etwa zwölf jähriges
    Mädchen zurecht, das mir gegenübersaß und ein appetitlich duftendes Leberwurstbrot
    verzehrte.
    »Das ist nicht mein Bruder«, erwiderte ich. »Ich kenne ihn eigentlich gar nicht!«
    Der Zug rollte an. Ich musste krampfhaft schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen. Viele
    Kinder weinten, aber ich wollte nicht dazugehören. Langsam verließen wir den Bahnhof. Die Sonne
    hatte es noch immer nicht geschafft, aus dem Nebel hervorzubrechen. Der Tag war grau und
    dunkel. Meine Zukunft erschien mir nicht besser. Grau, dunkel und so ungewiss, als laste auch
    über ihr der feuchte, undurchdringliche Nebel.
    Ich spürte, dass das Ende meiner Kindheit gekommen war. Tränenlos, aber mit einem Herzen schwer
    wie Blei nahm ich Abschied.
    Erst am späten Nachmittag langten wir in Yorkshire an. Der Fahrplan war völlig durcheinander
    geraten, weil unser Zug ein paar Meilen hinter London unerwartet zum Stillstand gekommen war
    und schließlich über drei Stunden hatte warten müssen Die Bomben der letzten Nacht hatten hier
    zwei große Bäume über die Schienen stürzen lassen, aber man war schon an den Aufräum- und
    Reparaturarbeiten, als wir die Stelle erreichten. Die Schwestern und Lehrerinnen, die den Zug
    begleiteten, gaben sich Mühe, uns einigermaßen bei Laune und ruhig zu halten; einige
    organisierten Spiele in kleinen Gruppen, andere gaben Papier und Malstifte aus. Schließlich
    brach tatsächlich die Sonne durch den Nebel, zerteilte die Schwaden und tauchte die herbstliche
    Landschaft in ein mildes Licht. Wir durften aussteigen und uns die Beine vertreten. Einige
    Kinder spielten sofort Fangen miteinander, andere kauerten sich unter Bäume und begannen, die
    ersten Briefe an die Eltern zu Hause aufzusetzen. Es gab auch solche, die immer noch weinten.
    Ich hielt mich abseits, packte die Brote aus, die meine Mutter mir mitgegeben hatte, und begann
    zu essen.
    Brian klebte wie ein Schatten an mir. Er sah mich unverwandt aus seinen großen,

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