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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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entsetzten
    Augen an. Er war mir unheimlich und lästig, und obwohl ich einerseits froh war, dass er nicht
    auch noch zu allem Überfluss auf mich einredete, fand ich seine totale Sprachlosigkeit doch
    ziemlich irritierend.
    »Kannst du überhaupt nichts sagen?«, fragte ich.
    Er fixierte mich unverwandt. Irgendwie weckte er mein Mitleid. Schließlich
    hatte er seine gesamte Familie verloren und steckte nun in einem Zug nac h Yorkshire, und das auch noch irrtümlich. Er kam mir vor
    wie ein kleines verlorenes Tier. Aber ich war elf Jahre alt und selbst verwirrt, ängstlich und
    voller Schmerz über die Trennung von meiner Mutter. Woher sollte ich die Energie nehmen, mich
    um dieses hilflose Wesen zu kümmern? Ich hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wie ich mit mir
    selbst fertigwerden sollte.
    Ich gab ihm ein Stück Brot, das er langsam kauend aufaß. Auch dabei ließ er mich nicht aus den
    Augen.
    »Kannst du nicht mal aufhören, mich ständig anzuglotzen?«, fragte ich genervt.
    Erwartungsgemäß antwortete er nicht. Und natürlich hörte er nicht auf zu glotzen. Ich streckte
    ihm die Zunge heraus. Es schien ihn nicht zu berühren.
    Als wir in Yorkshire ankamen, brach schon die Dunkelheit herein. Nicht mehr lange, und
    tiefschwarze Nacht würde das Land vor allen Blicken verbergen. Die Sonne hatte sich längst
    schon verabschiedet. Wir liefen im Bahnhof von Scarborough ein, stiegen mit steifen Knochen aus
    den Waggons und fröstelten in der Kälte des späten Herbstnachmittags. Das muntere Geplauder,
    mit dem sich die Robusteren unter uns die Zeit vertrieben hatten, war versiegt. Jetzt, da es
    dunkel wurde, brach bei allen die Angst vor dem Ungewissen durch. Und das Heimweh drängte mit
    Macht herbei. Ich glaube, nicht eines der Kinder hätte in diesem Augenblick etwas gegen weitere
    Nächte im Luftschutzkeller unter ständigem Bombenhagel einzuwenden gehabt, wenn es dafür bei
    seiner Familie hätte sein dürfen. Ich habe später, als Erwachsene, Abhandlungen zu diesem Thema
    der Kinderevakuierung gelesen.
    Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen und Doktorarbeiten, die sich damit
    beschäftigen. Fast einhellig herrscht die Meinung, dass die Traumatisierung, die viele Kinder
    durch die abrupte Trennung von ihren Eltern und die häufig dar auf
    folgende schlechte Behand lung in den Pflegefamilien erlitten
    hatten, schlimmer war und sich viel nachteiliger auf ihr weiteres Leben auswirkte als das
    zweifellos ebenfalls erhebliche Trauma der Bombennächte.
    Ich jedenfalls habe mich in kaum einem Moment meines Lebens elender und trauriger, schutzloser
    und ausgelieferter gefühlt als bei dieser Ankunft an einem unbekannten Ort, an dem ein
    ungewisses Schicksal vor mir lag.
    Ein Mann hatte am Bahnsteig gewartet, er sprach mit der unfreundlichen Schwester, die ich schon
    in London so unangenehm gefunden hatte und die offenbar die Hauptverantwortliche für unsere
    Gruppe war. Wir mussten uns in Zweierreihen hintereinander aufstellen. Die Frage, wem ich die
    Hand geben sollte, erledigte sich durch Brian, der sich, kaum dass wir ausgestiegen waren,
    wieder an mir festklammerte. Wir sahen aus wie ein Geschwisterpaar: große Schwester, etwas
    jüngerer Bruder. Nun ja, dachte ich, nicht mehr lange. Spätestens morgen schicken sie ihn
    zurück nach London.
    Fast beneidete ich ihn, machte mir dann aber klar, dass in London ja keine Mutter auf ihn
    wartete, so wie auf mich. Wenn es stimmte, was Miss Taylor gesagt hatte, und er keinen einzigen
    lebenden Verwandten mehr hatte, würde er im Waisenhaus landen.
    Armer Teufel, dachte ich.
    Wir folgten dem Mann durch das Bahnhofsgebäude hindurch auf einen
    Busparkplatz, auf dem bereits mehrere Busse warteten. Man forderte uns auf, dort einzusteigen,
    wobei es keine Rolle zu spielen schien, wer in welchem Bus landete. Nur einige wenige Kinder,
    deren Namen auf einer gesonderten Liste standen, wurden einzeln den jeweiligen Bussen
    zugeteilt. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um die Glücklichen, die bei
    Verwandten unterkommen würden und deren Zielorte daher schon feststanden, währ end für uns andere alles offen war. Es wurden
    verschiedene Dörfer angesteuert, die meisten lagen ein gutes Stück weit im Landesinneren. Der
    Bus, den ich - mit Brian an der Hand - erwischte, war der einzige, der, wie sich zeigen sollte,
    in Küstennähe blieb und seine Insassen rund um Scarborough verteilte. Scarborough selbst galt
    zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als Reception Zone, als

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