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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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Jederzeit konnte es uns
    heimtückisch erwischen.
    In erster Linie wurden natürlich Kinder evakuiert, aber auch schwangere
    Frauen, außerdem blinde oder auf andere Art behinderte Leute. Meine Mutter hatte mich eher
    beiläufig gefragt, ob ich auch wegwolle, aber ich hatte mich mit Händen und Füßen gesträubt,
    und sie hatte nachgegeben. Ich war sehr erleichtert gewesen, denn die ganze Geschichte flößte
    mir Angst, fast Grauen ein. Man war auf den seltsamen Einfall gekommen, diese erste Evakuierung
    ausgerechnet Operation Pied Piper zu
    nennen, und wie die meisten Kinder kannte auch ich die Sage vom Pied Piper of Hamelin, dem
    Rattenfänger von Hameln, nur zu gut: Er führt die Kinder in einem langen Zug in einen Berg
    hinein, und sie werden nie wieder gesehen. Das war nicht sehr ermutigend. Irgendwie hatte ich
    ständig die Vorstel lung, wir würden alle
    fortgebracht werden und niemals mehr zurückkehren.
    Zudem ging es, wie man hörte, teilweise sehr chaotisch zu. England war in drei Zonen geteilt
    worden, in Evakuierungszonen, neutrale Zonen und solche, die zur Aufnahme der Evakuierten
    vorgesehen waren. Es gab Berichte von völlig überfüllten Zügen, traumatisierten kleinen
    Kindern, die die Trennung von ihren Eltern nicht verkrafteten, und von einer schlechten
    Organisation, was die Aufnahme in anderen Städten und bei anderen Familien anging. East Anglia
    meldete völlige Überfüllung, während anderswo Gasteltern scharenweise auf ihren
    Aufnahmeangeboten sitzen blieben. Man schimpfte auf die Regierung, weil sie zu wenig Geld für
    die ganze Operation bereitgestellt habe, und dann blieben zunächst auch noch die Bomben aus.
    Zum Jahresende kehrten die meisten Evakuierten zu ihren Familien und an ihre alten Wohnorte
    zurück.
    »Siehst du«, hatte ich zu meiner Mutter gesagt, »wie gut, dass ich gar nicht erst abgereist
    bin.«
    Aber dann eben kam der Sommer 1940, und jetzt begriff jeder, dass der Krieg
    länger dauern würde als gehofft und dass zudem die Nazis in gefährliche Nähe gerückt
    waren. Von Juni an fanden erneut groß
    angelegte Evakuierungen statt. Eltern, speziell die, die in London lebten, wurden von der
    Regierung immer wieder aufgefordert, ihre Kinder fortzuschicken.
    Abermals überschwemmten Plakate die Innenstadt von London, diesmal waren
    Kinder darauf abgebildet, und in großen Lettern stand darüber: Mothers! Send them out of London! Gezwungen wurde allerdings
    niemand, jeder durfte selbst entscheiden, wie er verfahren wollte. Eine Zeitlang gelang es mir
    daher noch, meiner Mutter jede Überlegung, die in die Richtung ging, mich in Sicherheit zu
    bringen, auszureden.
    Jetzt, im Herbst, begann meine Position allerdings zu bröckeln, wie ich voller Unbehagen
    spürte.
    Anfang Oktober bekam unser Haus einen Volltreffer ab. Wir saßen zusammen mit den anderen
    Hausbewohnern im Luftschutzkeller, als es plötzlich einen krachend lauten Schlag über uns gab,
    bei dem wir meinten, unsere Trommelfelle müssten platzen. Gleichzeitig bebte und zitterte die
    Erde, und von der Decke über uns rieselten Staub und Mörtel.
    »Raus!«, schrie ein Mann. »Sofort alle raus!«
    Einige drängten voller Panik zum Ausgang. Andere riefen zur Besonnenheit auf. »Da draußen ist
    die Hölle! Bleibt hier. Die Decke hält!«
    Meine Mutter war dafür zu bleiben, denn von draußen waren jetzt dermaßen viele, rasch
    aufeinander folgende Bombeneinschläge in nächster Nähe zu hören, dass sie meinte, die
    Wahrscheinlichkeit, auf der Straße zu sterben, sei größer als die, dass wir hier im Keller
    begraben wurden. Ich wäre lieber hinausgelaufen, weil mir die Angst, hier unten langsam zu
    ersticken, bereits das Atmen schwer machte, aber letztlich hätte ich nichts getan, was nicht
    von meiner Mutter abgesegnet worden war, und so hielt ich aus, zitternd und bebend und mit vor
    das Gesicht geschlagenen Händen.
    In den frühen Morgenstunden gab es Entwarnung, und wir krochen voller Furcht vor dem, was uns
    erwartete, nach oben. Unser Haus war ein Trümmerhaufen. Das daneben auch. Und das daneben
    ebenfalls. Bis auf einige wenige Häuser eigentlich fast die ganze Straße. Wir rieben uns die
    Augen und starrten fassungslos auf dieses Bild voller Verwüstung.
    »Jetzt ist es passiert«, sagte meine Mutter schließlich. Wie wir alle hatte sie viel Staub
    geschluckt, und ihre Stimme klang, als wäre sie erkältet. »Jetzt haben wir kein Zuhause
    mehr.«
    Wir stocherten noch ein wenig in den Trümmern, fanden aber

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