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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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spät war.
    »Ich bin nicht sicher, ob ich das lesen möchte«, sagte sie. »Ich habe Fionas Privatsphäre immer
    respektiert, wissen Sie.« »Fiona ist einem grausamen Verbrechen zum Opfer gefallen. Diese
    Geschichte könnte ein bestimmtes Licht auf ihren Tod werfen.« »Warum haben Sie das alles dann
    nicht Detective Inspector Almond ausgehändigt, als sie vorhin da war?«
    »Weil die Geschichte auch ein Licht auf Fiona wirft. Wenn das, was dort beschrieben ist« -er
    wies auf den Stapel Papier -, »öffentlich gemacht wird, womit man rechnen muss, wenn es in den
    Händen der Polizei landet und sich zudem ein direkter Zusammenhang mit Fionas Ermordung ergibt,
    dann könnte es sein, dass Fionas Andenken hier in Scarborough nicht allzu ehrenvoll sein
    wird.«
    Leslie gab sich nun keine Mühe mehr, ihre Verärgerung zu verbergen. »Was hat sie denn getan?
    Eine Bank ausgeraubt? War sie Kleptomanin, Nymphomanin? Hatte sie perverse Vorlieben? Hat sie
    ihren Mann betrogen? Haben sie und Chad Chads Frau betrogen? Hat sie die IRA unterstützt? War
    sie Mitglied einer terroristischen Vereinigung? Was denn, Colin? Was hat sie denn
    getan?«
    »Lesen Sie«, sagte er nun zum dritten Mal. »Nehmen Sie diese Papiere mit nach Hause. Gwen und
    Jennifer müssen vorerst nicht wissen, dass Sie sie haben.«
    »Wieso nicht?«
    »Gwen will auf keinen Fall, dass der Inhalt der Polizei bekannt wird. Es
    geht ihr dabei vor allem um die Person ihres Vaters. Jennifer hält zu ihr, wie immer. Beide
    wären sehr böse auf mich, wenn sie wüssten, dass ich Ihnen den Ausdruck habe zukommen lassen.
    Aber ich finde . «
    »Was finden Sie?«, fragte Leslie, als er innehielt.
    »Ich finde, Sie haben ein Recht, die Wahrheit zu wissen«, sagte Colin, »und Sie, ganz allein
    nur Sie, haben das Recht zu entscheiden, ob die Wahrheit publik gemacht wird. Ich könnte
    absolut verstehen, wenn Sie es nicht wollten. Aber möglicherweise hängt die Aufklärung des
    Verbrechens daran. Und auch das sollten Sie allein entscheiden dürfen: ob der Mord an Ihrer
    Großmutter am Ende ungesühnt bleibt. Vielleicht wäre Ihnen das lieber.«
    Sie bekam Angst. Wusste, dass sie keine Antwort erhalten würde, fragte aber trotzdem: »Was
    denn, Colin? Was, um Himmels willen, steht denn da drin?«
    Er ersparte es ihr und sich, ein viertes Mal Lesen Sie zu sagen.
    Er sah sie nur an.
    Fast mitleidig, wie ihr schien.
    Das Leben auf der Beckett-Farm entpuppte sich als gar nicht so schlimm. Im Gegenteil, nach
    ziemlich kurzer Zeit lebte ich mich überraschend gut ein.
    Emma Beckett blieb so nett und liebevoll, wie sie sich schon bei unserer Ankunft gezeigt hatte.
    Sie war sanfter als meine Mutter, und sie erlaubte auch mehr. Man konnte ihr immer etwas
    Schönes abschwatzen: ein Wurstbrot zwischendurch, ein Glas hausgemachten Apfelsaft, manchmal
    sogar ein Stück Schokolade. Sie lebte in der Überzeugung, ich müsste vor Heimweh eigentlich
    verrückt werden, und ich ließ sie in dem Glauben, denn dadurch sprang viel mehr für mich
    heraus.
    Chad, der Sohn, durchschaute mich allerdings. »Du bist ein ganz schön ausgekochtes Stück«,
    sagte er einmal zu mir. »Bei meiner Mutter spielst du das verlorene kleine Schaf. Dabei sehnst
    du dich in Wahrheit kein bisschen nach London zurück! «
    Kein bisschen - das stimmte nicht. Mir fehlten unser altes Haus, die
    Straße, die Kinder, mit denen ich dort gespielt hatte. Manchmal fehlte mir auch Mum, obwohl sie
    immer so viel an mir herumgenörgelt hatte. Aber nach der
    Bombennacht, die uns obdachlos gemacht hatte, war mein Zuhause
    ohnehin zerstört gewesen. An das Leben in der überfüllten Wohnung von Tante Edith hatte ich
    jedenfalls keine schöne Erinnerung. Ich erinnere mich jedoch, dass ich einmal nachts heftig
    weinte, weil ich an meinen Vater denken musste. Obwohl er so viel getrunken und Mum immer kein
    Geld gegeben hatte, war er doch mein Vater gewesen. Mum würde ich wiedersehen, London auch, da
    war ich sicher. Mein Vater aber war für immer verloren.
    In Emmas Mann Arvid fand ich keinen Ersatz. Er war nicht direkt
    unfreundlich zu mir, aber im Grunde behandelte er mich wie Luft, und so blieb es die ganze Zeit
    über. Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass er mit der Idee seiner Frau, ein evakuiertes
    Kind aufzunehmen, nicht einverstanden gewesen war, sich wahrscheinlich nur mühsam hatte
    überreden lassen. Vielleicht hatte ihn letztlich das Geld geködert, das man von der Regierung
    dafür bekam. Nun aber war ein zweites

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