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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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gesprochen habe, sie meinte, ich müsse das doch wissen, da er ja in meiner
    Nachbarschaft gewohnt habe.
    Tatsächlich konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Wer von uns anderen hatte schon
    je den kleinen Brian wirklich zur Kenntnis genommen? Ich konnte Emma nur sagen, dass es in der
    Straße immer geheißen hatte, die Kinder der Somervilles seien allesamt unterbelichtet. Ein
    Ausdruck, der Emma wütend machte - und es war übrigens das erste Mal, dass ich sie wirklich
    zornig erlebte. »Wie kann man so etwas einfach behaupten?«, rief sie. »Von Kindern, die sich
    nicht wehren können? Wie kann man derart pauschale Urteile fällen?«
    Ich wollte sie nicht noch mehr reizen, sonst hätte ich darauf hingewiesen, dass es ja zumindest
    in Brians Fall zu stimmen schien. Ein achtjähriges Kind - oder vielleicht war er ja schon neun,
    keiner wusste schließlich, wann er Geburtstag hatte -, das nicht sprach? Das war nicht normal.
    Auch die Kinder in meiner Schule hatten das gesagt, als Emma einmal mit dem Fahrrad vorbeikam,
    um mir mein vergessenes Frühstück nachzutragen. Brian saß auf dem Gepäckträger. Es war gerade
    Pause, als er, undefinierbare Laute ausstoßend, vom Rad rutschte und freudestrahlend auf mich
    zustürmte. Er lallte irgendetwas, das niemand verstehen konnte.
    »Dein Bruder hat wohl einen an der Klatsche«, meinte die Klassensprecherin später zu
    mir.
    »Das ist nicht mein Bruder!«, schrie ich, und dabei muss ich sie sehr wütend angefunkelt haben,
    denn sie wich ganz erschrocken zurück.
    »Ist ja schon gut«, sagte sie besänftigend, so wie man mit einem gereizten Hund
    spricht.
    Mir war es überaus wichtig, dass niemand glaubte, ich sei mit dem kleinen Schwachkopf verwandt.
    So nämlich nannte ich ihn im Stillen für mich: kleiner Schwachkopf. Laut durfte ich das,
    jedenfalls in Emmas Gegenwart, nicht sagen.
    Das klingt alles sehr kalt, sehr lieblos. Und vielleicht kann man das tatsächlich von mir
    sagen: dass ich mich wahrlich nicht besonders nett diesem verstörten kleinen Jungen gegenüber
    verhielt. Aber man muss auch die Situation bedenken, in der ich mich in den Jahren 1940/41
    befand: ein Kind, das Abenteuerspiele liebte. Zugleich ein junges Mädchen, das Liebesromane las
    und sich verstörenden Gefühlen für einen fünfzehnjährigen Jungen ausgesetzt sah. Ich hatte
    London, meine vertraute Umgebung, von einem Tag zum anderen verloren, saß plötzlich auf einer
    Schaffarm in Yorkshire. Mein Vater war gestorben, meine Mutter weit weg. Ich hatte im Keller
    unseres Hauses gesessen, als es, von einer deutschen Bombe getroffen, über uns in sich
    zusammenstürzte. Es war viel, was ich zu verkraften hatte, das weiß ich heute.
    Damals war mir das gar nicht so klar. Ich spürte nur, dass mich Brian mit seiner
    Anhänglichkeit, mit seiner Liebe förmlich erdrückte. Dass ich mich vollkommen überfordert
    fühlte von ihm. Dass die Gegenwart dieses sprachlosen, traumatisierten kleinen Kindes irgendwie
    zu viel für mich war. Ich wehrte mich ziemlich rabiat. Vielleicht war das nicht unnormal für
    mein damaliges Alter.
    Normal wäre es allerdings sicher gewesen, wenn Emma mit Brian zu einem Arzt
    gegangen wäre. Dass der Kleine Hilfe brauchte, medizinischer oder psychologischer Art, war
    eigentlich nicht zu übersehen. Und wahrscheinlich übersah Emma das auch nicht. Ich hatte nie
    die Gelegenheit, mit ihr darüber zu sprechen, aber ich glaube inzwischen, dass sie einfach
    befürchtete, schlafende Hunde zu wecken, wenn sie irgendwelche offiziellen Stellen mit dem Kind
    aufsuchte. Aus London hatte sich niemand mehr gemeldet. Vermutlich war Brian irgendwo in der
    Kette zwischen der Schwester, die sich an jenem dunklen Novemberabend nach unserer Ankunft in Staintondale seinen Namen notiert
    hatte, und den für ihn verantwortlichen Behörden in London verloren gegangen. Emma war
    überzeugt, dass eine Überführung in ein Waisenhaus sein Ende wäre, und so war sie froh, dass
    sich offensichtlich niemand seiner entsann. Also tat sie alles, ihn unsichtbar zu halten. Sie
    verzichtete auf Arztbesuche, und sie konnte auch guten Gewissens davon absehen, ihn in eine
    Schule zu schicken. Denn dass Brian absolut nicht in der Lage war, weder bei gleichaltrigen
    noch bei jüngeren Kindern mitzuhalten, wäre jedem, der ihm begegnete, auf den ersten Blick klar
    geworden.
    Da die ganze Geschichte Arvid, ihren Mann, zwar nervte, Brians Wohlergehen ihm aber zugleich
    völlig gleichgültig war, konnte sie

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