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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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verfahren, wie sie wollte. Chad hielt sich ebenfalls aus
    der Angelegenheit heraus; er war in einem Alter, in dem er ganz andere Dinge im Kopf hatte. Ich
    wiederum sah ohnehin bald nur noch Chad, und Brian interessierte mich nur insoweit, als es
    allerlei listiges Vorgehen nötig machte, um ihn so häufig wie möglich loszuwerden.
    Außer für Emma war er für alle zu einer Art Niemand geworden. So nannte ihn Chad dann auch nach einer
    Weile: Nobody.
    Niemand.
    Im Februar 1941 besuchte mich Mum in Staintondale. Eigentlich hatte sie
    schon in der Weihnachtszeit kommen wollen, aber man hatte sie in der Familie, für die sie
    putzte und auch sonst allerlei im Haushalt erledigte , gut brauchen
    können, und sie hatte sich das zusätzliche Geld nicht entgehen
    lassen wollen. Ich hatte das gar nicht so schlimm gefunden. Das Weihnachtsfest auf der
    Beckett-Farm war sehr schön gewesen, es hatte sogar ein kleines bisschen geschneit. Ich hatte
    mich in den Wochen davor an Fleiß geradezu überboten und mich, wann immer ich konnte, auf der
    Farm oder im Haus nützlich gemacht und mir damit ein ganz ansehnliches Taschengeld
    zusammengespart. Davon kaufte ich Chad ein Fahrtenmesser, von dem ich wusste, dass er schon
    lange davon träumte. Als er es auspackte, leuchteten seine Augen auf, und als er sich bei mir
    bedankte, hatte sich irgendetwas in dem Ausdruck, mit dem er mich ansah, verändert. Es war, als
    sehe er nicht mehr nur das dumme, kleine Mädchen aus London vor sich, das ihm eigentlich bloß
    auf die Nerven ging, sondern einen halbwegs ernstzunehmenden Menschen. Dieser Blick und sein
    Lächeln waren für mich das Schönste am ganzen Weihnachtsfest. Und das Buch, das er mir
    schenkte:
    Little Women von Louisa
    Alcott.
    »Weil du doch so gern liest«, meinte er etwas verlegen. Ich hätte ihn am liebsten umarmt, aber
    das traute ich mich dann doch nicht. So drückte ich nur das Buch fest an mich. »Danke«, sagte
    ich leise und schwor mir, dieses Buch für alle Zeiten aufzubewahren. Was mir gelang. Ich
    besitze es noch heute.
    Weihnachten verging mit Kirchenbesuch, Singen und gutem Essen, und es hätte
    des langen, schuldbewussten Briefs meiner Mutter, in dem sie ihr Fernbleiben erklärte und
    rechtfertigte, gar nicht bedurft. Im Gegenteil, er verursachte mir dann wiederum ein Schuldgefühl. Mum schien der Ansicht,
    dass ich sie schrecklich vermisste, und wahrscheinlich wäre es ganz normal gewesen, wenn ich
    das auch getan hätte. Ich fragte mich, weshalb ich praktisch kein Heimweh hatte und mich inner halb weniger Wochen so gut auf
    der Beckett-Farm eingelebt hatte. Heute glaube ich, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Es
    lag nicht nur daran, dass ich mich in Chad Beckett verliebt hatte. Auch nicht nur daran, dass
    ich früher so oft mit meiner Mutter aneinander geraten war und es viel leichter fand, mit der
    sanften Emma auszukommen. Ich denke, ich hatte dort an der Ostküste Yorkshires mein Land gefunden. Ich bin kein Stadtmensch.
    Obwohl ich in London geboren bin und dort meine ersten elf Lebensjahre verbracht hatte, empfand
    ich die Straßen, die vielen Menschen, die hohen Häuser nicht als meine Heimat. Hingegen gaben
    mir die endlosen hügeligen Wiesen Yorkshires, die verträumten kleinen Dörfer, das Verschmelzen
    von Himmel und Erde an einem endlos fernen Horizont, die Nähe des Meeres, die vielen Tiere und
    die klare Luft das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein. Ich war dort, wohin ich gehörte. Auch
    wenn ich das damals noch nicht begriff.
    Meine Mutter stellte jedenfalls fest, dass ich richtig gut aussah, als sie schließlich an einem
    Wochenende Mitte Februar anreiste. Yorkshire präsentierte sich nicht von seiner besten Seite,
    aber welcher Landschaft gelingt das schon im Februar? Es herrschte kaltes, graues
    Nieselregenwetter. Der Hof war voller Schlamm, und die Spitze des Hügels dahinter verschwand in
    den tiefhängenden Wolken. Ich hätte Mum trotzdem gern die Brücke, die Schlucht, den Strand
    gezeigt, aber sie weigerte sich, mir nach draußen zu folgen.
    »Viel zu kalt«, sagte sie und rieb sich fröstelnd die Arme, obwohl wir dicht am Kaminfeuer im
    Wohnzimmer saßen, »und zu nass. Da klettere ich nicht über irgendwelche Felsen, tut mir leid,
    mein Liebes. Am Ende breche ich mir noch einen Knöchel.«
    Ich hatte den Eindruck, dass ihr die
    Beckett-Farm nicht be sonders gefiel, dass sie es hier keine halbe
    Woche ausgehalten hätte, aber natürlich war es besser als die Bomben

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