Das andere Kind
Dinners bei
Gwen in deren Zimmer verbracht, um die völlig aufgelöste junge Frau zu trösten.
Anschließend hatte sie sie überredet, mit ihr und den Hunden einen Spaziergang zu machen. Sie
seien gut anderthalb Stunden unterwegs gewesen, hatte Jennifer angegeben.
Unglücklicherweise waren sie in die entgegengesetzte Richtung zur Straße gegangen, über die
Hügel, dann durch eine Schlucht bis hinunter zum Meer.
»War es dafür nicht zu dunkel?«, hatte Valerie mit hochgezogenen Augenbrauen
gefragt.
»Der Mond schien«, hatte Jennifer erwidert, »und ich kenne den Weg gut. Die Hunde ebenfalls.
Wenn wir hier sind, laufen wir ihn zwei- bis dreimal täglich. Für den Notfall hatte ich aber
eine Taschenlampe dabei.«
Gwen Beckett hatte die Geschichte bestätigt. Sie hatte nicht mitgehen
wollen, aber Jennif er hatte gemeint, etwas Bewegung werde ihr guttun. Sie wusste allerdings nicht zu sagen, wie lange sie
unterwegs gewesen waren.
»Ich war ... irgendwie betäubt«, hatte sie leise gesagt. »Ich hatte mich so auf den Abend
gefreut, und alles war schiefgegangen. Ich war verzweifelt. Ich dachte, alles sei zu
Ende.«
Valerie ging ein paar Schritte über den Hof, setzte sich auf einen Holzstapel und ließ den
Blick über den östlichen Horizont schweifen. Die Farm lag am Fuß eines sich sanft erhebenden
Hügels, der von alten Steinmauern durchzogen war. Hier und da standen ein paar Bäume, feuerrot
und goldgelb leuchtend unter der Sonne. Laut Jennifer führte ein Weg, eher ein Trampelpfad, ein
Stück den Hügel hinauf, verlief dann in gerader Linie Richtung Süden und endete an einer
Schlucht, die von einer hölzernen Hängebrücke überquert wurde. Jenseits der Brücke gab es
Stufen, die in Serpentinen die Schlucht hinunterführten. Man musste eine Weile dort unten
laufen, es gab einen Weg, der jedoch stark zugewuchert war. Schließlich öffnete sich die
Schlucht zum Strand hin, und man stand in der kleinen Bucht, die zur Beckett-Farm
gehörte.
»Kann man dort baden?«, hatte Valerie gefragt.
Gwen hatte dies bejaht. »Allerdings ist es dort sehr steinig. Vor vielen Jahren hatte mein
Vater einmal den Plan, Sand ankarren zu lassen, um einen kleinen Badestrand für Feriengäste
anzulegen. Aber es kam dann nicht dazu.«
Die Farm ist ein Juwel, wenn man etwas aus ihr macht und ihre Möglichkeiten
nutzt, dachte Valerie nun, nicht ahnend, dass sie exakt den Gedankengängen Fionas vor ihr
folgte, Tanner hatte das bestimmt auch gesehen, als er begann, Gwen Beckett zu umwerben. Wie
weit würde er gehen, um sich sowohl seine Verlobte als auch deren
Besitz nicht durch das Störfeuer einer alten Frau abspenstig machen
zu lassen?
Und auch Gwen selbst hatte sich bedroht gefühlt. Eine nicht mehr ganz junge, unscheinbare Frau,
in deren Leben plötzlich ein interessanter Mann getreten war, der sie heiraten wollte. Valerie
hatte sofort gespürt, dass Gwen in Dave ihre einzige Chance sah, und womöglich hatte sie damit
recht. Fiona stellte eine Gefahr für sie dar. Hätte sie fortgefahren, rücksichtslos bei jeder
Gelegenheit gegen die anstehende Verbindung zu hetzen - wann wäre der Moment gekommen, da
Tanner die Nase vollgehabt und das Handtuch geworfen hätte? Aber ging eine Gwen Beckett deshalb
hin und erschlug eine Frau, die sie ihr Leben lang gekannt hatte, die sie liebte und an der sie
hing? Gwen wirkte geschockt und schmerzerfüllt. Wenn sie nicht eine sehr gute Schauspielerin
war, dann hatte die Nachricht von Fionas Tod sie überrascht und vollkommen aus der Bahn
geworfen.
Ich drehe mich im Kreis, dachte Valerie. Sie hatte eine Ahnung, dass sie das wahre Motiv für
den Mord an Fiona Barnes noch nicht kannte. Alles, wovon sie wusste, war der Streit mit Tanner,
der Eklat während der Verlobungsfeier. Aber das reichte nicht. Der Mord war mit einer Gewalt,
mit einer Brutalität ausgeführt worden, für die Fionas giftige Attacken zu geringfügig
schienen. Sie hatte allen den Abend verdorben. Aber sie war eine alte Frau, die im nächsten
Jahr ihren achtzigsten Geburtstag feiern würde. Wer räumte ihr noch die Macht ein, ernsthaft
das Leben anderer Menschen zu beeinflussen und womöglich sogar zu zerstören?
Und wie stand das alles in Zusammenhang mit dem Verbrechen an Amy Mills?
Das Nächste, dachte Valerie, ist die Gerichtsmedizin. Ich muss wissen, ob
beide Ta ten möglicherweise von ein und derselben Person begangen wurden. Dann nämlich wäre der Streit, den Fiona
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